Weimar, um den 24. Mai 1776
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Jakob Michael Reinhold Lenz
Johann Caspar Lavater (Zürich)
LKB
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Wie es zugeht lieber Lavater! daß ich das bewußte Bild noch nicht erhalte, da Du es doch Rödern für mich zugeschickt haben willst, begreiffe ich nicht, macht mir aber viele Herzensquaal. Das einzige worinn ich auf der Welt (ausser eurer Freundschaft) einen Werth setze, das einzige das mich in einer selbstgewählten Einsamkeit von der ganzen Weit vergessen, erhalten sollte, zum Besten manches guten Menschen erhalten – soll ich denn durchaus auf äusserste gebracht seyn. Ich verlange nichts, fodere nichts als einen Schatten – einen Schatten der mich allein an diese Welt binden kann die mich in allen meinen Verhältnissen peinigt. Ich will nicht müssig gehen in meiner Einöde, aber ich muß etwas haben das meine Kräfte aufrecht erhält, das mich dem grossen Ziel entgegenspornt um des willen ich nur noch lebe. Ich weiß sehr wohl daß dies
Schatten,
daß es ein Traum, daß es Betrug ist, aber laß – wenn es nur seine Wirkung
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thut. Und wenn die vorher bestimmten Schläge durch die unsichtbaren Mächte die mich brauchen
wollen
, geschehen sind: was ist darnach an dem Instrument gelegen!
Das vermuthlich zum Unglück bestimmt war.
Wende um

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Ich habe Deinen 2ten Teil Physiognomik nur flüchtig mit dem Herzog durchlauffen können, ihn bey manchen Stellen aufmerksam gemacht, ihm vorgelesen und mich gefreut. Sobald ich Ruhe finde geh ich es mit geweyhter Seele durch, jetzt bin ich auch selbst dazu unfähig. Du bist der Einzige dem ich diese Art meiner Existenz klagen kann, und nicht einmal darinn finde ich Trost. Eine gänzliche Taubheit meiner Nerven, die nur wenn ich arbeite, mich alle Stacheln des Schmerzens fühlen lassen. Sage mir ein Wort insbesondere, das wird wohlthun: aber um alles in der Welt schone mich nicht. Das macht bey mir alles nur schlimmer. Ich bin auf den Punkt verschwiegener unangenehmer Nachrichten scharfsichtiger als Du glaubst. Wahrheit ist immer der einzige Trost
für mich
gewesen.
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Wie ich itzt so klein so schwach gegen ehemals mich fühle. Gieb mir mehr
wirkliche
Schmerzen damit mich die imaginairen nicht unterkriegen. O Schmerzen Schmerzen Mann Gottes, nicht Trost ist mein Bedürfniß. Diese Taubheit allein kann ich nicht ertragen.
Du bist in Carlsruhe gewesen, wie mir Herr von Edelsheim, Minister am dortigen Hofe, der die Trauerpost von der russischen Großfürstin Tode hieher brachte, erzählt hat. Wie hat dirs dort gefallen? Und solltest Du nicht den Weg über Strasb. genommen haben? Und solltest Du niemand dort gesehen und gesprochen haben?
Bode ist eben von hier abgereist der Uebersetzer von Tristram Schandy. Goethens Erwin ist mit der Musik von der Herzogin Mutter Ietzt hier aufgeführt worden. Frage doch Kaysern ob er mich ganz vergessen hat? Hier warten soviele auf das Familiengemählde.
Wie wir mit Wiel. stehen, soll das Publikum nächstens öffentlich erfahren. Wie wärs, wenn er frömmer wäre als wir alle? Ein wunderbarer Mann, dessen Erkenntniß mir hier sehr wohlthut. Im Musäum (doch sags ihm nicht) laß ich bald etwas über ihn einrücken. Ich bin ihm sehr gut und seiner Frau u. Kindern.
L.


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Herrn
Herrn
JC. Lavater

Pfarrer am Waysenhause
zu
Zürich
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Provenienz
Zürich, Zentralbibliothek, RP 20, Nr. 14.