Dorpat (Tartu), 11. Oktober 1767
Der Brieftext wurde anhand des Originals kritisch geprüft.
Jakob Michael Reinhold Lenz
Friedrich David Lenz (Tarwast [Tarvastu])
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Bester Bruder!

Wie kann ich einen Augenblick anstehn, Dir bey der freudigsten Begebenheit Deines Lebens ein Bruderherz auszuschütten, das von Seufzern und Tränen wallet! Ich preise die Vorsicht mit Dir, die Dir die liebenswürdigste Gattin zuführt und unsere Familie in einem Jahre mit sovielem Glük überhäufft, daß wir für gar zu grosser Freude wie betäubt sind und nichts als jauchzen und stammeln können. So sind denn nun Deine Wünsche erfüllt: so schmeckest Du nun zum erstenmal alles Süsse, alles Entzükende einer Liebe, die keine Angst, kein Kummer, keine Träne verbittert. So belohnt denn die ächte, die reine, die wahre Zärtlichkeit endlich einmal ein Herz, das nur für sie geschaffen war und das schon von Jugend auf sich heimlich nach einem Gegenstande hat sehnen müssen, dem es sich ganz überlassen könnte. – O gütige Vorsicht! so erhöre denn alle unsere Wünsche, alle unsere Tränen, für dis Paar, das Du selbst durch wunderbare Wege geknüpft hast. Lebe, liebster Bruder! lebe lange, lebe glüklich in den Armen Deiner Cristinchen: seyd ein Muster der
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chönsten Ehe, ein Trost eurer für Freude weinenden Eltern, eine Freude eurer Geschwister: jeder eurer Tage müsse mit neuem Entzüken für euch geschmückt seyn, jedes eurer Jahre müsse so heiter hinfliessen, wie ein Bach, der durch Rosen fließt. Nie müsse ein Gram eure Seele umwölken, nie müsse ein Elend euch niederschlagen, da es euch nicht mehr allein, sondern verbunden, von der Hand Gottes verbunden, trifft, da eure Zärtlichkeit und eure Küsse euch trösten und selbst im Unglück beglücken werden. Eure Liebe sey so feurig, so rein, aber auch so unauslöschlich, wie das Feuer der Vesta: sey so dauerhaft, als ein Felsen, auf den das Meer vergeblich loßstürmt: eure Liebe lebe mit euch, sie leide mit euch: ihr werdet zwar sterben, aber eure Liebe wird so wie eure abgeschiedenen Seelen ewig währen, sie wird um euer Grab wachsen, und so wie eure Seelen dereinst wieder mit euren Körpern vereinigt werden; alsdann kann kein Tod sie mehr aufhalten, alsdann dauert sie bis in undenkbare Aeonen.
Ich seh euch schon im Geist, ihr liebenswerthen Beyde,
Ihr wandelt Hand in Hand durch Tarwasts frohe Flur.
Aus euren Mienen lacht nur Freude,
Und reine Lust und Lieb und Unschuld nur.
Euch wird der Lenz sich jetzo schöner schmüken,
Ihr findt ihn auf der Flur, findt ihn in euren Bliken.
Euch wird der Bach jetzt mit mehr Anmuth rauschen,
Mit froherm Ohr werdt ihr aufs Lied der Wälder lauschen,
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Und mit entzükterm Blick, werdt ihr von goldnen Höh’n,
Die Morgensonn zur Erde lächeln sehn.
Und weht der stürmsche Herbst und tobt der kalte Winter
So wird nur euer Herz und eure Lieb entzündter;
Im ländlich stillen Sitz werdt ihr, auch ganz allein,
Auch unter Schnee und Sturm, euch durch euch selbst erfreun:
Und wird denn in der Stadt der Tag
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zu trübe seyn,
Dringt ihm die Nacht zu früh herein,
Wird er des Abends Länge scheun:
Dann werdet ihr bey sanftem Lampenschein
Euch selbst Gesellschaft, Lust und Scherz und Frühling seyn.
Wird euch ins künftige ein neues Glüke lachen,
So werdet ihr vereint, es euch noch süsser machen:
Und naht ein Unglückssturm euch zärtlichen Erschroknen,
So wird des einen Trän des andern Tränen troknen.
Und einst wenn Jahre euch, wie Tage hingeflossen,
Und ein unschuldig Kind hält eure Knie umschlossen
Und stammelt seinen Seegen euch:
Dann ist nicht Ehr und Gold, dann ist nicht Thron und Reich
Dann ist kein Glük dem euren gleich.
Dann soll sich eur Geschlecht dem unsrigen begegnen
Und unsre grauen Eltern seegnen:
Dann wollen wir uns freun, wie sich ein Engel freut,
Voll Wehmuth und voll Zärtlichkeit,
Voll Wonne und voll Dankbarkeit. –
Und werden einst … Gedank voll Bitterkeit!
Und werden einst sich eure Augen schliessen,
(Doch dann erst, Gott! wenn sie das Alter halb schon schließt).
Dann drükt mit traurigen und doch noch traurig süssen,
Und euch im Tod noch angenehmen Küssen
Euch eure Augen zu. – O Bild voll Schmerz! Dann fließt!
Ihr Tränen meiner Wang, fließt um sie! Dann begießt
Ihr mir geliebtes Grab, aus seiner Erde schießt
Dann eine Ros herfür, die traurig reitzend blühet,
In der mein Aug das Bild von ihrer Ehe siehet.
Dann sag ich – – – doch mein Lied, zu traurig Lied! halt ein!
Sonst muß ich dieses Blatt mit Tränen überstreun.
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Ich umarme Dich und küsse Dich 1000mahl als Dein
allergetreuester Bruder
Jacob Michael Reinhold Lenz.
Dorpat den 11ten October 1767.
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Provenienz
Riga, Latvijas Akadēmiskā Bibliotekā, [1] Nachlaß J. M. R. Lenz, Ms. 1113, F. 25, V. 31, Nr. 2.