Landau, Mitte Oktober 1772
Der Brieftext wurde sekundär überliefert.
Jakob Michael Reinhold Lenz
Johann Daniel Salzmann (Straßburg)
LKB
Ich will Sie auch drücken, mein Sokrates, aber erst, wenn ich Sie
ganz
kennen gelernt und von ferne bewundert habe. – Recht so – wir stehen ganz beisammen; allen Ihren übrigen Meinungen unterschreibe ich. Wir müssen das Ordentliche von dem Außerordentlichen, das Natürliche vom Uebernatürlichen unterscheiden, nur müssen wir das Uebernatürliche nicht für unnatürlich halten, oder aus einer Welt verbannen, in der Gott nach einem höhern Plane arbeitet, als unser kurzsichtiger schielender Verstand übersehen kann. Ich bin sehr für das Ordentliche, für das Natürliche – nur eine aufmerksame Lesung der Briefe Pauli (der wirklich ein großer – ein übernatürlicher Mann war) zwingt mich eine übernatürliche Einwirkung nicht allein für möglich, sondern auch in gewissen Fällen (wie das z. E. da die Religion erst im Keimen war) für nothwendig zu halten. – –
Um auf dem hohen Berge nicht stehen zu bleiben, sondern auch im Thale herumzuhüpfen – muß ich Ihnen sagen, daß Friedericke aus Straßburg an mich geschrieben und mir gesagt hat, sie habe dort eine besondere Freude gehabt, die ich vielleicht boshaft genug seyn würde, zu errathen. Und das war die, Sie am Fenster gesehen zu haben. Sie schreibt ferner, sie wäre durch Ihren bloßen Anblick so dreist geworden, nach dem andern Theile des
Tom Jones
zu schicken und bittet mich sie desfalls zu entschuldigen. – Ist das nicht ein gutes Mädchen? – Und doch muß ich meinen Entschluß vor Ihnen verbergen. –
Was ist das für ein Zusammenhang? – Ein trauriger –
Ich bin dazu bestimmt, mir selbst das Leben traurig zu machen – – aber ich weiß, daß, so sehr ich mir jetzt die Finger am Dorne zerritze, daß ich doch einmal eine Rose brechen werde –
Zu allem diesem werde ich Ihnen die Schlüssel in Straßburg geben –
Der älteste Hr. von Kleist hat mir geschrieben, daß Briefe von meinem Vater da wären; er schickt sie mir aber nicht, ich soll sie selbst abholen.
Nun aber stößt sich meine Hinreise noch an vielen Dingen.
Ich muß schließen, ich sehe, ich kann dieß Blättchen nicht mehr zusiegeln, aber wenn es auch nicht unser Freund Ott wäre, durch dessen Hände es gienge, so sind unsere Briefe von der Art, als die spartanischen Ephori an ihre Feldherrn schickten, die an einen gemeinschaftlichen Stab müßten gewickelt werden, wenn man sie lesen wollte.
Ich bin bis ins Grab
Ihr

Lenz.
Provenienz
August Stöber: Der Dichter Lenz und Friederike von Sesenheim. Basel 1842, S. 72–74. Stöber spricht davon, dass „einige unvollständige Blättchen bei den Briefen [liegen], welche einzelne philosophische und theologische Betrachtungen, besonders über Leibnitz, enthalten.“ Die Manuskripte der Briefe an Salzmann sind beim Brand der Straßburger Bibliothek 1870 verloren gegangen.