St. Petersburg, 27. März 1780
Der Brieftext wurde anhand des Originals kritisch geprüft.
Jakob Michael Reinhold Lenz
Friederike Brion
LKB
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Meine theureste Freundin


Da Ihnen mein Abschieds und Danksagungsschreiben, das ich nach der Genesung aus einer schweren Krankheit an Sie schickte, vermuthlich aus dieser Ursache nicht zu Händen gekommen; so hoffe ich, diese Schuld aus der Entfernung wo nicht abtragen zu können, doch wenigstens durch mein Stillschweigen nicht zu vermehren. Sie und Ihre fürtrefliche Familie waren es, die in einem fremden Lande, auf immer, wie es schien, getrennt von den Meinigen, an einem kleinen ungesunden Ort, ohne Umgang, ohne Verbindungen den trübsten Stunden meines Lebens diejenige Aufmunterung gaben, deren Eindrücke mich über das Grab hinaus begleiten wer. den. Sie waren es, die mein Herz zu jedem zärtlichen Verhältniß wiederstimmten, das ich in meinem Vaterlande abgerissen. Der geschmackvolle und lehrreiche Umgang mit Ihren würdigen Cousinen, Ihre gegenseitige Freundschaft, die glücklichen Wendungen, die Ihr eigenthümlicher Geschmack, Ihr Witz und Ihre Empfindung jedem Zug in ihrem Karakter, so wie dem Karakter abwesender Freunde von denen wir uns offt unterhielten, zugeben mußte; mich anzuspornen wußte, ihnen nachzu eyfern, um Ihres unbestechlichen Beyfalls würdiger zu werden, waren damals die Muse meiner glücklichsten Stunden und sind nachher noch offt der Gegenstand meiner einsamen Unterhaltung gewesen. Sie hatten die Züge einer meiner geliebtesten Schwestern und wenn die Verschwisterung der Seelen keine Schimäre ist; so erlauben Sie mir, Sie unter diesem Karakter noch abwesend zu verehren. Ja theure sanfte Seele, wenn ich Sie mir unter diesem Klima denken könnte, hier wo der Mangel der lieblichen Witterung und Früchte, fremde Sitten und eine fremde Sprache, Ihren Lebensgeistern vielleicht den glücklichen Umlauf wehren und Sie hindern würden, Sie selbst zu seyn: so würd ich sie
ganz
in Ihnen
allein ganz
wiederfinden. Wenigstens sagen Sie denen, die itzt ein näheres Recht auf Ihre
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Theilnehmung und Freundschaft haben, daß der Eindruck Ihres Karakters, das Nachahmungswürdige desselben, mir offt die schwürigsten Knoten des Lebens habe lösen können: ein Vorzug, den Sie mit noch einer Freundin aus jenen Gegenden, die itzt in erhabenere versetzt ist – theilen.
Meine Reise darf ich Ihnen nicht beschreiben: sie war, wie die Reise durch die Welt, langsam und beschwerlich, mit manchen angenehmen Ruhepunkten. Ich sah endlich die Thurmspitzen von Riga und die Ufer meines Vaterlandes mit einer wunderbar vermischten Empfindung. Alles fremdete mich an – – bis ich die Meinigen wiedergesehen, von denen ich dennoch einige bis jetzt noch nicht umarmt habe. So zerstreut sind sie und an so verschiedenen Enden des Landes haben sie sich niedergelassen. Gegenwärtig bin ich in einer der größten Städte, abermal wie ein Fremdling und es wird Zeit brauchen, ehe ich über Personen und Sachen gehörig urtheilen kann. Ach wie viel ruhiger und schöner ist es in dem Gärtgen zu S – – als an den getümmelvollen Häfen. Geniessen Sie dieses Glücks ohne erst durch den Contrast versuchen zu wollen, ob es auch wirklich wahr sey, daß man es der sogenannten großen Welt vorziehen könne. Unglücklich genug
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ist der, der durch seine Situation dazu gezwungen ist. Er hat sich aufgezehrt, eh er zu leben angefangen.
Ich werde schwerlich die glücklichen Ufer des Rheins wiedersehen; sie die so viel Wesen, als die grossen Städte Schein haben – aber ich werde mich noch offt der Rheininseln erinnern, wo wir tanzten, des freundschaftlichen Lichtenau, wo die Freude wohnte, deren Maske hier niemand mehr betrügen kann, der Plätze alle, wo wir uns offt von ☓ ☓ besprachen, oder mit Ihren Cousinen ein gutes deutsches Lied sangen.
Lassen Sie mich hier abbrechen und nur noch fragen, was Ihr Herr Bruder macht – – was Ihre würdigen Schwestern machen. Die schalkhafte Selma u. die altkluge Sophie – konnte es ein schöneres Conzert für Ihre weiche sanfte Seele geben, als der Rath, der Umgang die Laune solcher Schwestern. Wie? sie sollten sich verändert haben? Nimmermehr! so wenig als F. B. sich verändern kann – von den Veränderungen des Karackters zu verstehen, denn das andere, deucht mich, würde nur dann nicht zu verzeyhen seyn, wenn es eine Veränderung zum Schlimmen wäre.
Empfehlen Sie mich Ihren theuresten Eltern und sagen ihnen, daß seit meiner letzten Krankheit meine Munterkeit so ziemlich hin ist – welches Sie auch meinem Brief wohl anmerken werden – und ich jetzt in den
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Pfänderspielen zu S. eine sehr traurige Figur machen würde. Ich habe eine Mutter verloren – ich habe mehr verloren – – Gegenstände genug, die mir das Grab anfangen könnten lieb zu machen – wenn nicht noch Personen auf dieser Oberwelt wären, an deren Glück ich anwesend oder abwesend von Herzen Theil nehmen könnte –
es
mich vielleicht anstecken würde mit Lebensfreude.
Und so leben Sie denn wohl theureste Freundin und findet sich eine Gelegenheit mit einem reisenden Freunde oder sonst – mir eine Nachricht von Ihnen – von Ihnen allen zukommen zu lassen – von Ihren Strasburgschen Freunden nicht zu vergessen– so werden Sie mich sehr glücklich dadurch machen.
Ich aber werde unter jeder Veränderung bleiben
ein




mit ganzer Seele theilnehmender Bruder

J M R Lenz.

St. Petersbg. den 27 Merz 1780.
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am linken Rand der vierten Seite, vertikal
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Dem verehrungswürdigen Herrn Onkel und ihren sämmtlichen fürtreflichen Strasb. Cousinen bitte meine beste Empfehlung zu versichern. Wenn Ihr Herr Bruder an mich schreiben will, so lassen Sie ihn nur die Adresse an meinen Bruder machen: den Oberpastor Lenz in Dörpat p. Francfort,
Memel et Riga,
weil ich noch keine Bestimmung habe
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am linken Rand der vierten Seite, vertikal
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Provenienz
Riga, Latvijas Akadēmiskā Bibliotekā, Ms. 1113, F. 25, V. 31, Nr. 19 (Der Brief erreicht Friederike Brion nicht).