St. Petersburg, 6. April 1780
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Jakob Michael Reinhold Lenz
Friedrich Justin Bertuch (Weimar)
LKB
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S. T.
Hochgeschätzter Freund




Die Gelegenheit, die sich mir anbietet, Ihnen zu schreiben, ist mir zwiefach willkommen, theils um mich einer nur zu lang aufgeschobenen Pflicht zu entledigen; für die ich ausser der Ihnen zur Gewohnheit gewordenen Güte und Theilnehmung gegen Fremde, keine Entschuldigung weiß; theils um einen Freund aus Petersburg, der sich selbst am besten empfehlen wird, zum Zeugen und Theilnehmer an meiner Erkenntlichkeit zu machen.
Herr Bause, Lehrer an der Petri-Schule
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möchte eine Reise nach Deutschland thun, um alle den Kakochymischen Spleen, der sich bei gleichförmigen Arbeiten, die in die Welt keinen Einfluß haben, anzusetzen pflegt abzulegen und mit erneuter Munterkeit und vermehrter Kraft seine Lautbahn wieder anzutreten. Der Hypochonder, der gewöhnliche Feind der Schullehrer, besonders, wo ausländische Verhältnisse sie drücken (ein Verdienst, daß die Philanthropine um unsere Schulen haben) wird, durch den Anblick des Vaterlandes vielleicht, durch die Unterhaltung mit würdigen und verdienstvollen Gelehrten und durch Verbindungen mit ihnen verschwinden. Alles Wissenswürdige und Schöne wird dazu beytragen, das ist es was ihn hauptsächlich nach
Weymar
– und auf meinen Rath an Sie
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führt. Sollten Sie noch einigen Zusammenhang mit Dessau haben, so werden Sie ihn und vielleicht mehrere Personen verbinden wenn Sie ihm ein Verhältniß mit den dasigen Lehrern befestigen helfen. Sie brauchen einen Mitarbeiter an ihr Erziehungsjournal, der gesammelte und bewährte Erfahrungen aus derselben Laufbahn, wiewohl von einem andern Klima her, zu der ihrigen gesellte. Ein Mann der in dieser Absicht zu ihnen reist giebt ihnen Ehre, indem er von ihnen Ehre annehmen will und mich dünkt, es wäre einmal Zeit, daß sich die Philanthropine, auch wegen ihres Kredits in Rußland – an die Schule anzuschließen anfiengen. Herr Bause wird hier allgemein geschätzt – und einem Mann seines Schlages würde der Professor Titel bey ihnen, unter dem er an unsrer Schule fort arbeitete, statt aller Honorarien
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seyn. Man trug mir einmal auf, Schriftsteller beym Philanthropin zu werden; ich kann mich nicht besser rächen als durch Empfehlung eines Tüchtigern.
Dem Triumvirat in W. darf ich nicht bitten, mich zu empfehlen. Sie haben zu viel zu thun, um an mich zu denken. Auch wär’s ihnen zu verargen, wenn sie die Gunst des freundlichsten der Fürsten minder beschäftigte. Ihnen darum keinen Vorwurf gemacht, wenn Sie auch mir einige Ihrer Neuigkeiten mittheilen. Der den Vorzug hat von einer Nation zu seyn, die vielleicht in der Krise der unverdorbensten Originalität steht. Eine Nation bey der Werther, der mißverstandne Werther in 24 Stunden vielleicht mehr
Verwüstungen
anrichtet, als an den geschwätzigen Ufern des Rheins u. der Donau in soviel Jahren wo aber auch die stummen Scenen Ihrer Elfride auf eine Art ausgeführt und
sentirt
werden, von der Sie vielleicht (so grosse Hochachtung ich für manche lndividua Ihrer Gegend habe) sich bey dem Gros der dasigen Karaktere keine Vorstellung machen können. Mit dieser Achtung nenne mich, nach verbindlichstem Empfehl an Ihre lebende Elfride
Ihren
ergebensten Fr. und Diener
JMR Lenz


St Peterbg. d. 6ten April 1780
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am linken Rand, vertikal
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Wenn Sie meinen Freund Hartknoch sehen, so grüssen Sie ihn von mir und sagen Sie ihm, daß wenn er erst Gesundheit aus Ihren Gegenden geholt, sich ihm die weissen Bären die er sich vielleicht in unsern Gegenden hinsetzt, noch wol einmal auf eine Art entzaubern könnten, die ihn überführte, daß wahre Schätzung des Verdienstes nur im Vaterlande (das nicht immer
native soil
zu seyn braucht) möglich sey –
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am linken Rand, vertikal
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Provenienz
Weimar, Goethe- und Schiller-Archiv, GSA 06/1126, Bl. 1–2.