Theurester Vater! Sie werden mit der Vorletzten meine ungerechten Briefe erhalten haben. Sehen Sie aus dieser Beilage, was meine Ausdrücke so dringend und heftig machte.
Ich ließ mich kurz vor der Abreise bey Sr. Exl. dem Herrn Graf Browne, Sohn – melden. Er nahm meinen Besuch an, ich sollte den andern Tag um sieben Uhr Morgens kommen. Unglücklicher weise arbeitete ich eben an dem Lyrischen Gedicht, womit ich nicht fertig zeitig genug werden konnte, also ihn schon nach Peterhoff verreist fand. Ich kann es ihm also noch nachschicken und er könnte es noch bekommen, wenn Sie die Gütigkeit haben wollten, es Ihrer Erl. der theuren Gemalinn unsers hohen Gönners zu übergeben oder durch sie den Weg erführen, es dem Herrn Grafen, entweder selbst zu übergeben, oder zuzuschicken. Es wird gewiß gut aufgenommen werden, da der Kaiser den ich Gelegenheit gehabt zu sehen – ein Freund der deutschen Musen, besonders der Klopstokischen ist – und es gern sieht wenn sie sich an ihn wenden.
Die Veranlassung des Gedichts war eine Begebenheit in Peterhoff die hier allgemeine Sensation gemacht. Der Grosfürst spaziert mit dem Kaiser – er führt ihn in seinen Lustgarten, den die Grosfürstin anlegen lassen. Der Kaiser sieht Mäurer, fragt, was da gebaut werde. Der Grosfürst umarmt ihn, er solle den Grundstein legen. Es sey ein
Tempel der Freundschaft,
den er errichten wolle. Alle Umstehenden weinten – so wie der Kaiser und der unnachahmliche Grosfürst von Rußland.
Der Tittel ist aus der heydnischen Mythologie, am besten geschickt, die Geheimnisse der Höfe einzukleiden. Semele bedeuten die Zuschauer und Rusland überhaupt. Sie bat sich von Jupitern dem Vater der Götter die Gunst aus, ihn ohne Wolke zu sehen. Sie ward ihr gestattet, und sie ward von dem Feuer verzehrt, das ihn umgab. – – – Das übrige wird Ihnen Freund Hartknoch mit errathen helfen, da bei einem lyrischen Gedicht eine gewisse Dunkelheit unvermeidlich ist, denn sobald man Erläuterungen dazu setzt, ist es nicht lyrisch mehr. Unverständlich wird es den Personen, die es angeht nicht seyn da es in der Sprache ihres Hofes und in Beziehung auf ihre Thaten geschrieben ist.
Noch eins. Wenn Freund Hartknoch, an den ich mit dieser Post unmöglich Zeit behalte zu schreiben – es druken wollte – nur für Freunde – so steht es bei ihm. Nur bäte ich, die Interpunktion richtig zu besorgen und meinen Namen vorn wegzulassen. – Der Kaiser Deutschlands verdient bey Catharinen zu glänzen. – Doch ist mir die Uebergabe lieber als der Druk.
Nun zum Schluß eine Bitte, die mir innigst am Herzen liegt. Schon lange bester Vater wünscht ich bei der Entfernung von Ihnen, wenigstens einen Schatten von Ihnen zu haben. Es ist der Wunsch meines Herzens. Ihr Porträt ist überhaupt nicht getroffen und es liegt uns Kindern, es liegt mehrern Menschen daran, etwas
wahres
von Ihnen zu haben. Thun Sie mir diese Väterliche Güte und lassen mir von Bruder Carl Ihre, meiner theuresten Mama, auch seinen eigenen Schatten, den Jakob, oder ein guter Freund zeichnen kann zukommen. Auch Hartknoch bitt ich sehr um seinen Schatten –. – Tausend zärtlichste Grüße bitte ihm zu sagen.
Ich küsse Ihnen und meiner theuresten Mama tausendmal die Hände und bin nach zärtlichstem Gruß an Bruder Carl
Ihr theuresten Herrn Vaters gehorsamster Sohn
J M R Lenz.
J M R Lenz.
auch von Lottgen ein Schatten! –
Peterbg. d. 5ten Jul 1780