St Petersbg. d. 2ten Jun 1781.
Theurester Vater!
Es ist hier eine Gesellschaft gelehrter Freunde und Kenner, die es unternommen hat ein Werk herauszugeben, das vielleicht das erste in Rußland und das erste in der Welt, für neuere Zeiten wenigstens könnte genannt werden. Dieses ist eine Sammlung von Lebensbeschreibungen merkwürdiger Männer für unser Vaterland, aber nicht von
einer Feder
 auch nicht von denen berühmten Männern
 die schon todt sind
 sondern von lauter Lebenden.
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Eben darum weil die Verfasser unbekannt und geschützt
 sind dürfen sie frey, unpartheiisch und unbestechlich – mit Eiffer für die Wahrheit
 und das Vaterland
 – allein, von ihren Helden sprechen. In diese Sammlung theurester Vater bin ich mit um einige Beiträge gebethen worden. Von wem könnte ich sie wohl mit mehr Fug und
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ohne irgendeine Pflicht zu verletzen mit wärmerem Herzen liefern, als von meinem Vater. Seyn Sie also so geneigt, solange wir noch das Glück haben Sie diesseits des Grabes zu sehen mich (und in mir unsere ganze Familie) in ganz freyen offenen Stunden mit einem soviel möglich umständlichen Detail Ihrer merkwürdigsten Fata zu erfreuen die Sie von Ihrem Vaterlande an bis auf der Stuffe des jetzigen, das Sie mir gegeben haben, an Ihnen sowohl als den nächsten Ihrigen erlebt haben. – Ich erwarte
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dieses als ein freywilliges Geschenk Ihrer Vatergüte sobald es Ihnen möglich und werde eiffersüchtig auf jedes nicht sehr wichtige Geschäft seyn, das Sie an der Niederwerfung dieser Züge Ihrer Seele hindert. Auf den Styl bitte ganz und gar keine Sorge zu wenden – weil Sie doch wohl vermuthen können, daß ich als Sohn jede Art Ihres Ausdrucks verstehe und mirs einzig um die Sachen
 zu thun ist.
Ich bin dem Grafen schon bekannt; darf aber gleich am Anfange nicht Gage fodern. Bester Vater. Hartknoch wird Ihnen einen Brief von Wieland weisen, der Sie überführen wird, daß ich bald nicht mehr nöthig haben werde, Ihnen beschwerlich zu fallen. Lassen Sie Ihre Arme nur jetzt noch nicht müde werden, mich zu unterstützen, da ich Unterstützung brauche. Ich könnte Ihnen mehr sagen, wenn ich nicht wüßte, daß 
littera scripta manet.
 Der gute Geist gebe es Ihnen zu ahnden. – Sagen Sie doch dem Derptschen Bruder er soll nicht so eigensinnig
 ungläubig
 seyn und mir einige seiner Predigten schicken, daß ich sie Weygand in Leipzig zusende. Ich thue diesem damit einen Gefallen.Zugleich bitte Hartknoch gelegentlich etwas dieses Unternehmens aber
sub sigillo amicitiae et taciturnitatis
 wissen zu lassen. Ich hoffe er kriegt den Verlag, wenn er ihm gelegen ist – wovon ich mir einen Wink ausbitte. Die ersten Namen die im ersten Bande vorkommen – doch ich werde ihm selbst darüber schreiben, wenn ich ihn willig merke, auch das äussere dieses Werks so zu besorgen, daß es diesen Namen
 entspricht.
Für die fünfzig Rubel statte tausend Danksagungen ab. Ich war in großer Noth. Mehr vom Derptschen Bruder zu erfahren.
Dero
gehorsamster Sohn J M R Lenz.
Man räht mir hier von allen Seiten nach Moskau zu reisen, theils um die Sprache, theils um Herrschaften kennen zu lernen, besonders da Graf Panin jetzt dort ist, bey dem unser Vetter Lenz aus Cüstrin Leibarzt ist. Wie mach’ ich es dorthin zu kommen, da ich von den 50 Rbln alles für Schulden weggeben müssen. Die Reise kostet 25 Rbl. Dort finde ich schon Unterstützung am Grafen. Wie befinden sich die Augen und die Zähne meiner theuresten Frau Mama! – – Auch ihr küsse gehorsamst die Hand.