Moskau, 9. November 1790
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Jakob Michael Reinhold Lenz
Johann Christian Lenz (Riga)
LKB
2
Moskau, den 9ten
9br.
1791.


Mein theurester Bruder!

Ich schike diesen Brief offen, weil ich nicht glaube Mißdeutungen zu besorgen zu haben. Erbetrift mit wenig Worten einen dem Ansehen nach armen und durch einen verstümmelten Körper doppelt unglüklichen Liefländer, der, in dem Hause beym Compt. der
Assignationen
unvermuthet aus
Kadom
erschien und sagte er wollte nach
Riga
und zwar über
Smolensk Polotzk Witepck
und
Plescou
– reisen, ich möchte ihm Briefe mitgeben. Dieses that ich und schrieb (nachdem einige Anstösse von Unpäslichkeit gehabt, die mich hindem selbst zu Euch zu kommen), sehr weitläuftig, weil alles doch in einem hingeht. Nun erfahre ich daß seine Reise theils durch eingefallenes Thauwetter, theils wegen Mißverständniß mit seinem angenommenen Fuhnnann einen Stillstand gewinnt und da er mir eine silberne Uhr zum Verkauf anbot, schliesse, daß es ihm auch am Gelde fehlen muß. Seine Reise über
Plescou
war mir doppelt erwünscht, da ich dort an einem Herrn
Albert
oder
Albrecht
und am
Baron Dietz Commendanten,
dessen du dich aus den Kinderjahren – doch wohl vielleicht nicht mehr erinnerst – Bekannte habe und diese mit unserm Bruder in Derpt und dem dasigen Adel verschiedene Geschäfte von Wichtigkeit in Richtigkeit bringen könnten, die sich anders nicht einfädeln lassen, als durch einen
Internuncius,
wozu ich aus wesentlichen Hindernissen
persöhnlich
diesmal nicht dienen konnte.
Da mir also wirklich diese Reise gut und nützlich scheint, auch derselbe mehr Lust nach
Riga
wo er Verwandte hat als hier zu bleiben bezeuget, allein wahrscheinlich zu den Reisekosten Beyhülfe braucht, so habe mich des
Couverts
unsers gemeinschaftlichen Freundes Reimmann bedienen wollen, Dich und unsere sämtlichen Geschwister aufs inständigste zu bitten, etwa auf Abschlag der gütigen Beyhülfe, die mir durch Eure Güte und unsers lieben theuren Vaters zukommt, ihm, im Fall er in Umstände kommen sollte, seine Uhr zu versetzen, oder andere Schulden des Fortkommens halber zu machen, selbiges zu vergüten weil der Allwissende schon die Umstände so zu lenken wissen wird daß mir und Euch kein empfindlicher Verlust daraus erwachsen kann. Der Fuhrmann hat 26 Rubel bis Riga bedungen und ist ein gewöhnlicher, der nach Riga zu gehen pflegt: die besondren Umstände des H. v. Schröders sind mir nicht bekannt, er hat mir zwar einige Namen aus Curland genannt, die ich in Straßburg kennen gelernt, als einen von Bohlschwing mit dem er weitläuftig verwandt
zu
seyn aussagt.
Ich hoffe daß er, welcher in 7 Tagen in
Plescou
seyn will und in 12 in Riga, wenn er auch Aufhaltungen findet, dennoch spätestens in 14 Tagen oder 3 Wochen bey Euch eintreffen und meine Briefe richtig abhändigen wird, woran mir mit alledem gelegen ist weil viele Dinge darinn auch meine eigene Persohn betreffen. Er hat Verwandte in
Kockenhusen,
wo, wenn ich nicht irre ein Prediger ist, dessen sich Bruder
Carl
erinnern wird, der allerley kleine Stükchen erzählte, als Papa der silberne Becher wegkam. Es war, wo ich nicht sehr irre damals ein Landtag oder Adelsversammlung in Riga, von der ich mit meinen hiesigen Zerstreuungen den eigentlichen Termin vergessen habe. Die Derplische Universität ist zu Wasser geworden, so sehr ich mich in St. Petersb. bey der Akademie bemüht, sie wieder in Andenken zu bringen, allein ich hoffe, der Liefländische Adel wird nichts dabey verlieren, weder der Rigische noch des Dörptschen Kreises bey welchem unser lieber Bruder Friedrich soviel
Influenza
hat. Ist nicht eine Verordnung daß der Adel zu gewissen Zeiten sich in
Riga
aufhalten muß, besonders der in
Collegicis.
Und dehnt sie sich nicht etwa auch auf die Landgeistlichkeit aus, die Geschäfte in
Riga
haben? – Ich küsse dich mein theurer Bruder und deine liebe Gemalinn und Haushaltung zum neuen Jahr mit tausend warmen Bruderküssen und bin ewig
Dein getreuer obwohl offt kränklicher Bruder
Jacob Michael Reinhold Lenz.
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am linken Rand, vertikal
left
Der Buchhandel würde auch bey Pieskau gewinnen, so wie die Bankgeschäfte, da diese Stadt mit allen Städten an der Düna durch die Polota, Ewst u. s. f. und durch den Urnensee mit dem Kanal und der Schifflände Gschat zusammenhängt, wo ein starker Handel von Moskau auch nach Liefland ist. Amnestie aller meiner alten Thorheiten in Liefland und ein neues Jahr.

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N.S. Es ist ein Schwager (Bruder der andren Frau) des Herrn Past. Brunner in St. Petersburg, der bey einem Feldregiment Offizier war und, wo ich nicht irre See Dienste bey den Landtruppen zur Bewahrung der Küste genommen: er heißt Neumann und hat viele Empfehlungen. Sollte derselbe dem Bruder Carl nicht zu Gesicht gekommen seyn? Oder den Kindem des Bruder Friedrich in Petersburg. Ich habe seine Adresse nicht aus der man mir ein Geheimniß macht, wenn er nach Liefland reiste, würde ihm gern einen Brief an den Herrn von Engelhardt in Odennyer auf den Gütern des Grafen Romanzoff mitgegeben haben: dieser Herr von Engelhardt ist dem Bruder Benjamin in Reval bekannt geworden, wo er Verwandte unter dem Adel hat. Ich habe noch einen Brief von ihm. Wie sehr wäre zu wünschen, daß eine hohe Schule im
Lande
in der Nähe entstünde, wo die jungen Liefländer ehe sie herausreisten und ihr Geld in der Fremde verschwendten, ein oder zwey Jahre das
Vaterland seine Sprache
und
Gerechtsame
kennen lernten. Es sind nur
20
die ins Cadettencorps aufgenommen werden. An
Gelehrten
auch im
Lande,
besonders auch in
Moskau
wo viele gelehrte Russen besonders der
Medizin
auch auf eigene und der Käiserin Kosten fremde Länder besucht haben und alle Sprachen, die deutsche nicht ausgenommen sprechen,
fehlt es nicht
aber nur an
Eltern
und
Kindern
die ihre tausend und über tausendjährige Vorurtheile überwinden.
☓ ☓ ☓

Ich habe Pappa von dem neuen Projekt einer
Polyglotta
oder allgemeinen
Bibelübersetzung
in alle Sprachen mit stehenden Pressen zum Besten der Armen – geschrieben, welcher Vorschlag hier im
Senat
– durchgedrungen. Dieser Brief importirt mir also – imgleichen von einer französischen
Zeitung
die ich auszugeben gedenke, zur Erleichterung der allgemeinen Sprache für Rußland von der alle 44 nach Herrn Tschulkoff, als
Dialekte
anzusehen, welches dem schönen Geschlecht das schon Sprachen kennt,
spielend
zu beweisen mich getraue. Zugleich werden einige Fragmente der
Geschichte,
zu der ich gesammlete
Materialien
nicht bekannt machen darf, des allgemeinen
Vaterlandes,
und Auszüge aus
Herrn Tschulkoffs Handelsgeschichte
und den neusten Handelsverordnungen, mehr
dem Sinn
der Gesetze nach als dem todten Buchstaben zum Besten der Landekonomie und des
innern Handels auf Flüssen,
diese Blätter vielleicht auch in Liefland
begehren
machen wo doch beinahe in jedem feineren Hause irgend eine Französinn oder Hofmeister ist (der kein
Lauffer
war) und Französisch wenigstens gelesen wird. Sollte unsrer theurer Altgens bey
Consistorial
geschäften sich seines Sohnes nicht erbannen und mein langes Geschmier etwa von Bruder Carl vorlesen lassen? Die Herrn Erzieher des Menschengeschlechts und die Theologischen Krittler und Zänker, welche aus
Tag Nacht,
aus
Erdichtungen Wahrheit
und aus Wahrheit Lüge machen möchten, nur um zu
disputiren
und Recht zu haben ohn zu wissen
was sie eigentlich wollen,
werden mir verzeihen, daß ich bey den
unendlichen Schrauben
der sogenannten Gewissens und Ehrgerichte, an meinen
Vater selbst Zuflucht
nehme und mir seinen Väterlichen Seegen ausbitten muß – welches zu einem neuen Jahr (mit der innigsten Reue über alle meine auch in Liefland begangenen Fehler, die ich aus dem was mir von seinen Briefen übrig geblieben, die vielleicht aus guter aber irrender Meynung ein Freund von mir ohne mein Wissen verbrannt hat, noch itzt ersehe) mir eine ganz neue und andere Existenz schaffen wird. Ich fürchte nur daß die Briefe
nicht eher
in des Derpischen Bruders als in Eure Hände lieben Geschwister! gerathen, deswegen ich eins und das andere davon hier einführe, das wichtigste aber diesem Briefe nicht anvertrauen kann, welches meine ganze irdische und
vielleicht
zukünftige Existenz
betrift. Ich glaube bemerkt zu haben daß meine Rigischen Geschwister über diesen Punkt weit einsichtvoller und menschenfreundlicher denken, als die andem deren Herz umzulenken ich dem lieben Gott allein überlassen muß, weil ich kein Herzenskündiger bin. Vielleicht hat eine Lecture aus ganz verschobenen Gesichtspunkten und allzu rasche Schlüsse die durch eine alte liefländische Dame die taub war und über Pieskau nach Derpt zurükkehrte, dazu beigetragen – worunter ich allein am meisten und unsäglich leiden mußte, da diese Schlüsse sehr thätig und wirksam würden. Mit einem Worte, ich konnte und durfte mich mit keiner Liefländerinn verbinden.
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am unteren Rand, spiegelverkehrt
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Herrn Johann Christian Lenz. Sekretär des K. Gouvernements und Rath in
Riga
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Provenienz
Riga, Latvijas Akadēmiskā Bibliotekā, Ms. 1113, F. 25, V. 31, Nr. 29.