Straßburg, 1. Mai 1775
Der Brieftext wurde anhand des Originals kritisch geprüft.
Jakob Michael Reinhold Lenz
Sophie von La Roche (Koblenz-Ehrenbreitstein)
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D. 1sten May 1775.

Gnädige Frau!


Ich halte mich für eben so berechtigt Ihnen zu schreiben, als ein freyer Geist über alle Unterscheidungszeichen und Verhältnisse in der Welt herausgehoben, Ihnen seinen Beyfall zulispeln würde, wenn er Sie irgend eine edle grosse Handlung ausüben sähe. Ich habe von Ihnen weder zu hoffen
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zu fürchten, und um Ihnen die Warheit dessen und die Ungezwungenheit und Freywilligkeit meines Urtheils zu beweisen sollen Sie meinen Namen nicht erfahren, aber erlauben Sie mir auch jetzt mit aller der Hochachtung zu Ihnen zu treten, die das Anschauen Ihrer wundernswürdigen Eigenschaften in mir rege macht. Ich habe hie und da Nachrichten von Ihnen eingezogen die alle dunkel und unzuverlässig waren, besser wust ich mich nicht zu wenden als an Goethe der mir einmal einen Brief in Coblenz aus Ihrem Dintenfaß geschrieben hat. Und wie entzückt ich darüber seyn muß die Züge Ihrer Hand in meinen Händen zu sehen, dieser Hand die die Sternheim schrieb, und von dieser soviel Gütiges für mich!
„Das Gleichgestimmte meines Carakters“
– wissen Sie auch was das auf sich hat gnädige Frau? Die göttliche Güte hat mich, da ich eben durch andere Vorfälle meines Lebens und Verirrungen meines Kopfs und Herzens bis
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zu Boden gedrückt war, auf einmal wieder erhöhen wollen, ich fühle ein neues Leben in mir, neue Aussichten, neue Hoffnungen und ach Gott! wie selten kommt mir das, etwas von Ihrer Selbstzufriedenheit. – Erschrecken Sie über dies Wort nicht, Sie allein können es ohne Gefahr brauchen. Solange konnten Sie zusehn daß Ihre Sternheim unter fremdem Namen möchte ich beynahe sagen vor der Welt aufgeführet wurde und mit halb sovielem Glück, als wenn jedermann gewußt, aus wessen Händen dieses herrliche Geschöpf entschlüpfte. O wahrhaftig starke Seele, müssen doch Männer Ihnen erröthen und zittern. Lassen Sie mich aufrichtig reden, der Name des Verfassers komischer Erzehlungen war keine gute Empfehlung für einen Engel des Himmels der auf Rosengewölken herabsank das menschliche Geschlecht verliebt in die Tugend zu machen, dieser Name warf einen Nebel auf die ganze Erscheinung und ich danke Ihnen eben so eyfrig, daß Sie ihn mir von den Augen genommen als ich Ihnen das erstemahl für Ihre Schöpfung gedankt haben würde. Und wie es mir in die Seele hinein Vergnügen macht, daß ich mich in der Ahndung auch um kein Haar
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verschnappt, W. habe nur die Noten und die Vorrede gemacht, denn sie sind so ganz sein würdig. Ich verkenne diesen Mann nicht, aber er hätte mit mehrerer Ehrfurcht dem Publikum ein Werk darstellen sollen, dessen Verfasserin zu groß war selber auf dem Schauplatz zu erscheinen und dies soll geahndet werden.
Gnädige Frau! nennen Sie Ihr Mädgen nicht phantastisch, ich hoffe es werden Zeiten erwachen die itzt unter dem Obdach göttlicher Vorsehung schlummern, in denen Leserinnen von Ihnen Ihr Buch das sie jetzt noch als Ideal ansehen, zur getreuen Copey machen werden. Wenn Sie doch für jedes
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Alter dergleichen Ideale schüfen! Sie würden alle einen Thon haben, weil sie aus Ihrem Herzen kämen, das sich in dergleichen Gemählden nur selbst abdruckt. Liebe gnädige Frau! der Himmel belohne Sie. – Wär’ es auch nur für all die wollüstigen Tränen die Sie mir haben aus den Augen schwärmen machen und in denen die ganze Welt um mich her verschwand



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Wenn ich bedenke, daß und womit ich Ihnen Freude gemacht habe, so werde ich stolz auf mich selber und danke dem Himmel für die Stunde in der er mich hat geboren werden lassen, für die Leiden, den schönen krummen Pfad durch den er mich bis zu Ihnen hinaufführte, daß ich wenigstens Ihr Angesicht sehen kann. Ich habe nur den ersten Brief in der Iris gelesen und Sie gleich wieder darin gefunden. Lebt solch eine Freundin wirklich die mit den geheimsten Bewegungen Ihrer grossen Seele vertraut ist, so sei sie dem Himmel gesegnet, mit Ihnen die Zierde unsers Säculums. Was sollen wir schmeicheln liebe gnädige Frau, mich däuchte der erste Brief mit mehr Feuer geschrieben als die nachfolgenden. Binden Sie doch Goethen ja recht ein, mir wenns möglich die nächstfolgenden im Mskpt mitzutheilen, ich werde mit diesem Heiligthum gewissenhafter umgehen als W. Nicht ein Wort in diesem ganzen Briefe habe ich gesagt, das nicht mit der vollen Empfindung meines Herzens ausgesprochen, das ich nicht vielleicht weit stärker gebraucht haben würde wenn ich in einer andern Himmelsgegend und Zeitraum
von Ihnen
gesprochen hätte
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am linken Rand, vertikal
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Alles alles schicken Sie mir was Sie gemacht haben, auch das französische. Ich muß Sie ganz kennen lernen und das grad in dieser Lage meines Herzens. Hier ist meine Adresse. Was kannֹ’s mir auch schaden Ihnen meinen Namen zu sagen. Es ist so der
kürzeste
Weg. Und ich habe viele Namensvetter, die auch Goethen kennen.

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links unten
bottom left
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am linken Rand, vertikal
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Provenienz
Weimar, Goethe- und Schiller-Archiv, GSA 56/N3, Bl. 3–4.