Emmendingen, 13. Januar 1776
Der Brieftext wurde sekundär überliefert.
Johann Georg Schlosser
Jakob Michael Reinhold Lenz (Straßburg)
LKB
Ich schreibe Dir, lieber
Lenz,
dießmahl in einer wunderlichen Verfassung Ich habe da ein anderthalb Hundert Bürger um mich deren Wohlfart ich besorgen soll; und die doch selten selbst wissen was ihre Wohlfart ist – doch wer weis es? warlich, lieber Freund, es ist sehr schwehr, es ist fast unmöglich in der Welt Leute glücklich zu machen, die so in tausend und tausend Verhältnisse verwickelt sind, so in und ausser sich immer zu kämpfen haben, daß sie alle 2 Schritte anstoßen. Auch ist wirklich das Gebäude von menschlicher Mühseeligkeit so zusammen gesetzt daß an dieser dädalischen Maschine alle Augenblicke etwas fehlen muß.
Doch in der That, mein Lieber, wenn ich mir recht auf den Puls fühle, so ist der gröste Defect an Glückseeligkeit meiner und ich glaube auch wohl aller Menschen negatif. Es ist nicht so viel Schmerz und Leiden, als vielmehr Oede an herzrührenden herzfühlenden Freuden, das uns drückt. Daher kommt das Gähnen – die größte Quaal des Lebens, das Jagen nach falscher Glückseeligkeit oder Freude, das Haschen nach Ehre, der Durst der Eitelkeit, das Koketiren des Mädchens, des Dichters, des Autors, und die tausend Schmetterlinge nach denen wir immer greifen, und die uns nie gnügen, wenn wir sie haben.
Und woher dünkt Dich kommt das? Meinst Du daß es an Armut der Welt, oder glaubst Du daß es an Schlaffheit der Mode liegt? Sterben wir aus
inedia
oder
ex fame
?
Mich dünkt es fehlt mehr an uns als an der Welt. Die Freuden der Liebe, der Freundschaft, des ächten Wohlthuns, des Lebens mit Gott, die Freude des Künstlers an Ton, an Farbe, an Gestalt, sollte uns das nicht überzeugen daß die Welt reich genug ist und daß nur wir zu schwache Magen haben. – Und ist’s nicht blos die Erziehung die uns diese geschwächt hat?
Ich bin einmal in der Meinung daß kein Philister gebohren wird. In allen sind einige Nerven vorzüglich gespannt, die durch die Erziehung so vest und sicher gestimmt werden können, daß die seelige Vibration nie fehlen kann, wir mögen uns in der Welt hinwenden wohin wir wollen.
Leb wohl! Der Augenblick den ich während des Schreibens des Actuarii erwischte, ist vorbey! – Ich küsse Dich herzlich!
Du schreibst mir nichts von den Büchern die ich verlangte: Herodot, Diod. Sic. und Plutarch. Kannst Du sie nicht haben –
Lindau
ist ein Stockfisch. Ich habe ihm keinen Auftrag gegeben. Er soll sich besser erklären. Adieu.
Schlosser.


Auf dem
Emmendinger
Rathhaus, den 13 Jänner 1776, Abends 7 Uhr.
Provenienz
August Stöber: Johann Gottfried Röderer, von Straßburg, und seine Freunde. Colmar 1874, S. S. 164f. Auf einem Aktenbogen geschrieben.