Fort Louis, d. 15 Junius n. St.
Mein theurester Vater!
Abermal muß ich eine Gelegenheit kahl aus meinen Händen laßen, mit der ich in Ihre Arme zu fliehen hofte. Wenigstens soll mein Brief mitgehen, wenn ich mein Herz in denselben einschließen könnte, ich thät es mit Freuden. Ich schreibe jetzt unter den grausamsten Kopfschmerzen an Sie, die die hier jetzt unausstehliche Hitze und zugleich die Weindiät verursachen, und von denen ich sonst, wie von andern Krankheiten, Gott sey Dank! nichts weiß: obschon äussere Umstände, Sorgen, Kummer und Geschäfte mir sie oft genug hätten zuziehen können. Noch immer bethe ich die Vorsehung an, und noch immer muß ich Sie aufmuntern, sie mit mir anzubethen und alle Ihre zärtliche Sorgen auch in Ansehung meines Schicksals auf sie zu werfen. Bedenken Sie daß wir in einer Welt sind, wo wir durch tausend in einander gekettete Mühseligkeiten zum Ziel gelangen und niemals eine vollkommene Befriedigung auch unserer unschuldigsten und gerechtesten Wünsche erwarten können. Wenn ich so eitel seyn darf, zu glauben, daß meine Abwesenheit eine kleine Wunde in Ihrer Seele macht: welch eine Wunde muß denn die Ihrige in der meinigen machen? Die Abwesenheit meiner theuresten Mutter und Geschwister, meiner zärtlichsten Freunde – die allezeit Arme und Herz für mich offen hielten, da ich sie jetzt als Fremdling allenthalben für mich verschloßen sehe. Umstände dazu, die ich Ihnen weder schildern will noch kann – – dennoch, dennoch halte ich meine Augen zum Vater im Himmel emporgerichtet, der mir an jedem Ort nachfolgt, und wenn ich entfernt von Himmel und Erde wäre und Leib und Seele mir verschmachtete.
Im Herzen rein hinauf gen Himmel schau ich
Und sage Gott, dir Gott allein vertrau ich
Welch Glück, welch Glück kann größer seyn.
Nur daß keiner meiner Briefe zu Ihnen gelangt, daß Sie durch dieses Stillschweigen nicht allein an meinen Schicksalen, sondern auch an meinem Charakter irre werden: das kränket mich. Ich habe seit Ihrem letzten Briefe schon zweymal an Sie geschrieben, und dennoch krieg ich einen Vorwurf über den andern wegen meines Stillschweigens. Und können Sie glauben, daß mein sonst doch weiches Herz sich auf einmal in einen Stein verwandelt – Gott, du weißts. Ich schätze kein zeitliches Glück so hoch als dasjenige, Sie noch einmal zu sehen. Was soll ich Ihnen sonst noch von meinen äussern Umständen sagen. – Die Vorsehung Gottes hat mir einen liebenswürdigen Cirkel von Freunden geschenkt, mir Ihren Verlust zu ersetzen: sie sind aber das was die Wachslichter gegen das Tageslicht sind. Einen Nahmen muß ich Ihnen hersetzen, damit Sie seiner in ihren Seufzern für mich erwähnen: er ist mir zu theuer.
Salzman
– o wenn ich einen so erfahrenen liebenswürdigen Mentor nicht hier zur Seite gehabt, auf welcher Klippe würde ich jetzt nicht schon schiffbrüchig sitzen? – Wenn Ehre
ein wahres Gut ist, so bin ich glücklich, denn die wiederfährt mir hier genug, ohne daß ich sie verdienet habe. Sie ist aber vielmehr ein Joch, als ein Gut, und sie allein würde mich nie abhalten, in den stillen Schooß meines Vaterlandes unbemerkt wieder zurückzukehren. So aber sind mir jetzt noch Hände und Füße dazu gebunden, ich möchte lieber sagen, abgehauen. Ich bringe meinen Sommer in Fort Louis, einer Festung sieben Stunden von Strasburg zu, auf den Winter werde ich wieder dahin zurückkehren. Jetzt bin ich also in einer fast gänzlichen Einsamkeit. Auf den künftigen Frühjahr hoffe ich mit Nachdruck und Succeß an meine Heimreise zu denken. Bis dahin, theuresten Eltern, geben Sie sich noch zufrieden. Ich wünsche Ihnen den großen Gott, auf den ich bisher noch nie zu meinem Schaden gerechnet, und, ich glaube es unverändert, auch niemals ins künftige rechnen werde. Wenn ich meine Lebens Geschichte aufsetzte, würde sie vielen unglaublich scheinen. Ich setze dis aufs Alter aus – vorher aber auf unsere mündliche Unterredung. Freuen Sie sich in dieser Zeit Ihrer wohlgerathenen anwesenden Kinder, theurester Vater, schließen Sie einen abwesenden Flüchtling in Ihr Herz und Gebeth, aber schließen Sie ihn aus Ihrer Sorge, und übergeben ihn dem großen Gott, der am besten weiß, was für ein Gefäß er aus ihm machen will – Ich falle Ihnen und meiner theuresten Mama mit den zärtlichsten Thränen in die Arme, als Ihr bis ins Grab gehorsamster und getreuester Sohn Jac. Mich. Reinh. Lenz.