Straßburg, Ende Februar 1776
Der Brieftext wurde sekundär überliefert.
Jakob Michael Reinhold Lenz
Sophie von La Roche (Koblenz-Ehrenbreitstein)
LKB
Daß mich Ihr gütiges, mehr als mütterlich herablassendes Zutrauen, gnädige Frau! bis zu Thränen gerührt hat, – warum muß ich es Ihnen so spät sagen? Anstatt meine fürwitzigen Erkundigungen mit dem Ernst der Weisheit abzuweisen, geben Sie Ihnen mütterlich gütig nach, und beschämen auf die Art meine Dreistigkeit bis zum Verstummen. Indessen war mir alles auf der Welt an diesen Nachrichten gelegen, und ich bedaure nichts weiter, als daß ich mit Einziehung derselben bisher so saumselig gewesen. Die geringste Kleinigkeit von Ihnen und Ihrer würdigen Familie Umständen, ist mir von jeher äußerst wichtig gewesen; nur waren die Nachrichten, die ich, als ein in diesen Gegenden völlig fremder, halber Lapländer, bisher davon hatte einsammlen können, alle so mangelhaft, so wiedersprechend, in einem so hohen Grade wiedersprechend gewesen, daß dieses Bedürfniß meines Herzens auf keine andre Art befriediget werden konnte, als von Ihnen selbst. Wollte Gott, ich hätte eher so glücklich seyn können! Werden Sie es einem Kopf, der von hundert nothwendigen, und zehn Tausend unwichtigen Dingen gezerrt wird, verzeihen, daß ich mit meinem Dank so spät komme? Und dennoch Keckheit genug habe, so viel es möglich, und so weit eine solche Bitte von mir, ohne unbescheiden zu werden, geschehen kann, Sie um nähere Aufhellungen einiger Stellen Ihres lezten Briefes anzuflehen? Wer war der Hohepriester, der bey dem Schicksal der liebenswürdigsten Person Ihres Geschlechts eine so unliebenswürdige Rolle spielte? Und war die Leidenschaft des Andern edel, die, wie ich aus allem ahne, unglückliche Folgen hatte? Ich las alle diese Worte, wie die Passionsgeschichte unsers Heilandes.
Wie entzückt bin ich über die Familienportraite, die Sie mir aufgestellt haben. Noch oft spaziere ich in Gedanken in dieser Gallerie herum, und freue mich über die mannigfaltigen, und doch einartigen Abdrücke des treflichsten Vaters, (den ich zwar nur von der Seite seiner Erholungen und Vergnügungen, ich meyne die Briefe über das Mönchswesen, kenne, dessen ganzen Werth ich aber, nach Maaßgabe dieser, mit einem angenehmen Schaudern ahne,) und der fühlbarsten, weisesten und aller Verehrung würdigsten Mutter.
Könnte ich Ihnen doch alles sagen, was mir auf dem Herzen liegt. So viel müssen Sie wissen, daß Ihre Nachrichten mir in einem Augenblicke kamen, wo sie mich fast zu Boden schlugen. Ich wußte nie, daß Sie einen Sohn hatten, geschweige einen würdigen Sohn, der bey Wieland im Hause gewesen, und also auch ihm manches zu danken hat.
Mein Wiederwillen gegen W., schrieb sich bloß aus einigen seiner Schriften her; seine Privatverhältnisse habe ich nie gewußt, mich freilich mit großen Unrecht zu wenig darum bekümmert. Erst jezt geht mir über viele Stellen in Ihrer unsterblichen Sternheim ein Licht auf, das mich in einen wunderbaren Zustand versetzt, den ich Ihnen lieber, vielleicht sehr dunkel und unvollkommen, zu ahnen überlassen, als beschreiben will. Auch wären vielleicht noch viel fatalere Sachen erfolgt, wenn ich nicht, (ich denke, aus Fügung der Providenz,) noch im kritischen Augenblicke, diese Winke erhalten, die mir nun, von Ihnen, um so viel heiliger sind. Nehmen Sie mehr als wörtlichen Dank, würdige Frau!
Ich hoffe, daß auch ich Wieland kennen lernen, und mit ihm, zwar zu seinem Vorteil, werde ausgesöhnt werden. Indessen hat doch alles das zu manchem gut seyn müssen.
Gegenwärtig gehe ich mit einer kleinen Reise nach Deutschland um, die die nach Italien wohl noch vorher kreuzen, vielleicht ganz auf eine andre Zeit aussetzen könnte. Ich bin nicht so ganz Dichter allein, als Sie wohl glauben werden, und fühle es wenigstens sehr lebhaft, daß zum gut und artig seyn, auch nothwendig das
seyn
gehöre.
Provenienz
Weimar, Goethe- und Schiller-Archiv, GSA 56/I,6,1, Bl. 6r–7r; zg. Abschrift.