Darmstadt, 8. März 1776
Der Brieftext wurde anhand des Originals kritisch geprüft.
Johann Heinrich Merck
Jakob Michael Reinhold Lenz (Straßburg)
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Ich danke Ihnen lieber guter Mann für Ihren treugemeynten Brief herzlich. Wir wollen also mit einander beginnen, u. es soll uns beyde nicht reuen. Laßen Sie sichs nicht leid seyn, daß die
Leute
Welt Ihren Namen kennen weiß. Sie haben mehr Freunde als Sie glauben, u. wer Ihre Bücher goutirt, ist ein guter Mensch. Denn den flachen Köpfen u. Herzen sind sie so unausstehlich. Und der guten Menschen giebts doch viel, u. der unverdorbenen, besonders unter den Weiblein. Hätten Sie nicht geschrieben, so wüßte z. E. unser Einer nicht zu seinem Troste, daß ein so guter Mensch mehr lebt, wie Sie, ob ich gleich glaube daß der Poeten mehr sind, die nicht schreiben, als die da schreiben, u. daß von jedes Menschen Empfindung so viel verraucht, biß ’s aufs Papier kommt u.
dabel
wird, daß nichts übrig bleibt als caput mortuum. Selbst Goethe mahlt oft mit Wasserfarbe Geschichte der Menschheit, wenigstens an manchen Stellen, um sein Fascikel voll zu machen. Das weis er auch selbst, und ich habs ihm auch gesagt. Mit ihm hab ich offt Ihre Liebes-Gedichte gelesen, u. gefunden was das ist, wahre Leidenschafft. Sie waren dem äussern Schnitt des todten Buchstabens nach Menantisch, Ta
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landrisch u. Gottschedisch, dafür hätte sie gewiß Ramler gebrandmarkt. Aber innen wehte der grose Wind heraus, der uns mitschaudern machte. – Von meinen Lumpreyen hab’ ich jezt nichts zum Absenden, weil ich so schreibe daß ’s kein Mensch lesen kan, u. zum Copiren hab’ ich keine Zeit eben. Dafür schick’ ich Ihnen Herders Rhapsodie. Sie ist von dem grosen Gebrauch sehr schadhaft geworden, bitte sie wohl in acht zu nehmen. Er hat sie gleich nach Empfang des Reimhards geschrieben. Ich hab den zweyten Th. begonnen, von dem nächstens. Etwas Rhypographisches auch von oder nach Swift. Die Romanzen führt Goethe alle in einem Bande mit sich. Ich habe keine weiteren Abschriften, u. die ersten Aufsäze sind mir alle verloren gegangen. Ich hab ihm aber darum geschrieben. Von Herdern hab’ ich noch viele Gedichte, die ich Ihnen alle nach u. nach sub Rosa mittheilen kan. – Wann ich künftig was schnizele sollen Sies sehen; ich denke es wird mir doch aufmunterung u. Trost seyn, wenns in Ihnen wiederhallt. – Könnten Sie uns nicht einmal besuchen, besonders wenn Claudius hier wird seyn? Bleiben Sie ja ich bitte Sie in Deutschland. Vor unser einem ist in Rußland kein Heil u. Seegen. Wir haben keine Körper, um in
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jenem Lande zu
geniessen
mit vielem huren, spielen, fressen u. sauffen. Und
unsere
Seelen, so wie alle Arten überhaupt, die auf etwas mehr als dem Miste thierischer Bedürfnisse wühlen, kann man dort ganz entbehren. – Ich lebe hier, wenn Goethe in Weimar bleiben solte, freylich auch auf einem verwünschten Sand
fleck,
wo nie was gescheutes keimen kann u. wird. Aber die liebe Noth ist das beste täglich Brod. Die hat mir noch beständig mein Dach geflikt, u. wirds auch so fort fliken. Lebten wir im Überfluß, so würden wir
Gens aisés,
u. ennuyirten uns, hätten außer unsern eigen, noch standsmäßige obstruction. – Ausserdem bin ich zu verschiedene malen von Madame Fortuna tüchtig gewamset worden, wofür ihr aber mit Yorik herzlichen Dank sage. Ich gäbe meine jezige Existenz nicht um aller Welt Güter willen weg, u. wenn ich noch einmal in Mutter Leibe zurückgehen, u. die
Reihe von mir selbst unabhängiger
mich angehende
Begebenheiten
wählen sollte, so solt’s in Gottes Namen nicht anders seyn, als es gewesen ist.
Von Goethen hab’ ich allerley hübsche u. gute Sachen. Haben Sie
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das Stük von Wieland Goethe u. die jüngste Niobe Tochter? wo nicht will ichs schiken. Sie schreiben
jezt
dort Farcen (sub Rosa) die sie Matineés nennen, haben Sie nichts davon? Eine schöne Zeichnung von Krause hab’ ich auch wo er sizt, u. den Faust vorließt, der Herzog u. alle andere um ihn herum.
Ich denke unter der Adreße der Mlle König u. der Frau Geh. Räthin
Heße
könnten wir immer einander schreiben, ohne daß es Postgeld verursacht.
Leben Sie wohl u. gedenken Sie meiner offt z. E. wenn etwas von Ihnen nach Weimar geht, könnts nicht vorher ein bißchen hier anhalten? Ihre Posten hat mir Goethe nie wollen mittheilen.
So eben scheint die liebe Sonne u. ich denke es ist besser Gottes Angesicht schauen als schreiben.
Leben Sie wohl u. halten Sie Ihr Versprechen nächstens zu schreiben.

Ihr ganz eigener
Merck


D. 8ten Mart. 1776.
Provenienz
Riga, Latvijas Akadēmiskā Bibliotekā, Ms. 1113, F. 25, V. 32, Nr. 39.