Weimar, April 1776
Entwurf
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Jakob Michael Reinhold Lenz
Johann Friedrich Simon (Dessau)
LKB
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Anfang nicht überliefert

und gemeinschaftlich für ihr ganzes zukünftiges Leben zubereitet würden, so daß Gottes Namen dadurch verherrlicht und seine Liebe in aller Herzen gepflanzt würde – sehen Sie das schmeckt allen, Pietisten und Katholiken und Jansenisten und der Freygeist hat auch nichts dagegen einzuwenden. So machte es Zinzendorf und Sie müssen eine Kopfhängersprache reden und
von Herzen
oder ich prophezeye Ihrer Anstalt den Untergang. Wozu bekehren, wozu Erbauungen? Ist es nicht genug, nicht
übererbaulich
genug, daß alle bey einander wohnen und bey einander
wohnen lernen
wie in Gottes Welt. Gemeinschaftliche Geschäfte treiben, gemeinschaftliche Ergötzungen haben, laß sie doch meinthalben die Egyptische Katze anbeten. Ihre Tugend, Ihre Providenz richtet Sie zu Grunde Herr Professor, diese Namen sind
odiosa
obschon kein Mensch ist, der sie nicht im Herzen glaubt nur immer unter anderer Gestalt und anderen Benennungen. Also still davon. Und negotiiren Sie bey Pastor Götzen in Hamburg und bey allen Pietisten im Römischen und Russischen Reich, sie thun tausend mal mehr als die Großen, sie reißen die Großen mit fort. Sagen Sie, Sie hätten mit Ihren Schriften (denn auch die sind den meisten verhaßt) sich nur bei den Freygeistern den Weg bahnen wollen, auch sie in Ihre Parthey zu ziehen, damit wenigstens ihre
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Jugend nicht verloren gienge,
daher bäten Sie, dieß Geständniß nicht
laut werden zu lassen
und ihnen
ingeheim
mit ihrer Hülfe beyzustehn und alsdann, Herr Professor,
alsdann
werden Sie Wunder sehen. Die Pietisten sind keine Spitzbuben, ich kenne sie besser. Sie
thun alles
wenn man in ihre Ideen hineinzugehen weiß und sich nicht offenbar wieder sie erklärt. Nur die widrigen Gesinnungen der Herren
Denker,
ihr Stolz, der Hohn die Geringschätzung mit der sie ihnen begegnen, erbittern sie und wen sollten sie nicht? Ich habe einen Vater der Pietist ist, er ist der treflichste Mann unter der Sonne. Schreiben Sie ihm, er wohnt zu Dörpt in Liefland, aber ich bitte, geben Sie ihm diesen Schlüssel zu Ihren Schriften und ganzem bisherigen Betragen und er, wie alle guten Pietisten, springen über die Mauer für Sie und Sie werden die Folgen sehen. Wenn die Leute irren, wenn ihr Kopf zu leicht und dafür ihr Herz desto voller, ihre Thätigkeit desto nachdrucksvoller und uneigennütziger ist, wollt Ihr Herren sie darum auslachen. Sollt Ihr nicht vielmehr diese höchst brauchbaren Leute suchen in Eure Parthey zu ziehn. Und was ist denn eure Tugend anders als die ihrige, nur daß eure Vorstellungskraft anders ist? Laßt doch den Leuten ihre verschobene Einbildungskraft, wie dem Kinde seine Puppe, und beweißt eure richtigere dadurch, daß ihr euch in sie hineinzusetzen wißt, ohne sie
verändern zu wollen.

Eben die Ahndung die die Leute haben, daß sie sich durch ihre vorsetzliche
Unvernunft
bey den Weltleuten verächtlich machen, welches sie als ein Leiden um Jesu willen ansehen, macht sie desto empfindlicher, desto argwöhnischer. Der geringste Ausdruck, der eine Bekehrungssucht verräth beleidigt sie, weil sie sich nicht bekehren wollen, bekehren können, so wenig als Ihr. Redt
ihre Sprache
mit ihnen wenn Ihr beweisen wollt, daß Ihr mehr Vernunft und ein grösseres Herz habt. Nehmt sie in euer Herz auf und tragt sie, wenn ihr stärker seyn wollt als sie die euch zu tragen meynen. Nennt’s Busse und Glauben und Wiedergeburt, was ihr itzt Tugend u. Providenz nennt, sind es denn nicht nur Namen und für dieselbe Sache. Wenn die Engländer den Franzosen den Krieg angekündigt hätten und ein französischer Kaufmann hätte einen großen Handel in England zu machen, wär’ er nicht ein Thor, wenn er nicht mit den Engländern in ihrer Sprache redte, wenn er auch nur durch einen französischen Laut verriethe von welcher Nation er sey. Sind bey Ihrer Art Unternehmungen müssen Ihnen nicht alle
Menschen gleich seyn.
Eben so müßten Sie es mit den Katholiken machen, eben so mit den andern, wie die Apostel jedem in seiner Sprache. Und in ihren öffentlichen Conspeckten von nun an versprechen alles was Tugend und Herz angeht (und was ist denn die Religion anders?) den Lehrern jeder Parthey zu überlassen.
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Die andere Erinnerung ist, daß nicht alle Sacherkenntniß der noch unreiffen Jugend heilsam ist. Gewiß lieber Herr Professor das schröckt eine Menge Eltern ab, würde mich selber abschröcken. Das Moralische darf eben so wenig übertrieben werden als das Physische.
Anatomie
Kenntnis
von
Erzeugung der Thiere
und Pflanzen sind nicht für das Knabenalter. Eine glückliche Unwissenheit, bis Körper und Moralität zur Festigkeit und Stärke gelangt sind. Giebt es denn nicht andere Sachkenntnisse die diesen vorangehen können, giebt es denn nicht andere Motive der kindlichen Liebe? Liegen die stärksten nicht in
der
Natur?
Macht es denn die Natur selbst anders, hat sie nicht den Schleyer des Geheimnisses weißlich über die Sachen gebreitet. Laß es seyn daß auch der stärkere Geschlechterreitz in diesem Geheimniß liegt, auch
der
muß Ihnen
heilig seyn.
Lassen Sie den Kindern die wohlthätigen Alberkeiten der Ammen, klären Sie nur sonst ihre Phantasey auf. Laß sie sich immer über den Punkt zerrathen und die Köpfe zerbrechen, aber die
starre Verweigerung aller möglichen Antwort darüber
die vorsetzliche Unwissenheit in der Sie sie darüber lassen, giebt diesem Triebe das
heilige,
das mysterieuse das er haben muß, wenn ihre Kinder nicht Liliputmenschen werden sollen. Verspahren Sie alle Aufklärung hierüber und über alle Geheimnisse des Naturreichs, bis auf die letzten Wochen wenn sie auf die hohe Schule gehen, da Sie sie ihnen mit
grosser Feyerlichkeit
eröfnen können. Mit Freymäurer-
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feierlichkeit und vorhergegangenem
Schwur nichts auszuplaudern,
wenn ich was zu rathen hätte. Das wären Eleusina, die selbst bey verdorbenen Sitten das einzige Mittel zu ihrer Wiederherstellung wären. Denn laß es seyn, daß der Knabe selbst es bey unglücklichen Gelegenheiten schon früher erführe, es bliebe seiner Neugier doch immer noch was zu vermuthen, doch immer noch Zweiffel übrig, wenn man standhaft darauf bestünde, ihm vorher nichts davon zu verrathen. Uebrigens aber auf sein äusserliches Betragen die schärfste Aufmerksamkeit hätte und seine Phantasey mit andren Dingen auch mit Ergötzlichkeiten gehörig unterhielt und beschäftigte. – Bey der Entdeckung aber müßt’ er Ihnen einen Freymäurereid unter den fürchterlichsten äusserlichen Zurüstungen thun, nicht allein den jüngeren von dem was er erfahren würde nichts zu sagen, sondern auch keinen
unrechten
Gebrauch davon zu machen. In weiterem Detail lassen Sie sich· alsdenn nicht ein, um keine
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Meineidige zu machen, sondern weisen ihm nur
anatomisc
h die schädlichen Folgen der Debauche und überlassen das übrige seinem Gewissen. So werden Sie nicht allein aufgeklärte und liebenswürdige sondern auch gesunde und starke Weltbürger ziehen, deren glückliches Alter sie von selbst bewegt, ihre Kinder niemand als ihnen anzuvertrauen. Das ist von wichtigem Folgen für Ihre Anstalt, würdigster Mann! als Sie glauben werden. Ich kenne einen grossen Theil der Eltern auch in meinem Vaterlande. Ich weiß welch ein wichtiger Punkt einem zärtlichen väterlichen Herzen die Gesundheit seiner Kinder ist. Ich weiß fürchterliche Exempel vom Gegentheil, die den Eltern unaussprechlichen Gram gemacht haben.
Ich bitte meine wortreichen Erinnerungen mit der Liebe aufzunehmen mit der sie geschrieben sind und diese nicht sowohl in meinen Ausdrücken als in dem Herzen zu suchen aus welchem sie kamen und das mit der wärmsten Ehrerbietung ganz Ihre ist.
Lenz.
Provenienz
Tallinn, Eesti Ajaloomuuseum, Fondi 61, Nimistu 1, S/Ü 23, Bl. 37–39. Anfang des Briefes verschollen. Der vollständige Brief umfasste sechs Quartseiten. Es handelt sich wahrscheinlich um einen Entwurf.