Landau, 18. September 1772
Der Brieftext wurde sekundär überliefert.
Jakob Michael Reinhold Lenz
Johann Daniel Salzmann (Straßburg)
LKB
Landau, den 18ten.

Guter Sokrates!

„Ohne mich nicht ganz glücklich“ – Fürchten Sie sich der Sünde nicht, einen jungen Menschen stolz zu machen, dessen Herz noch allen Passionen offen steht und durch Zeit und Erfahrung nur noch sehr wenig verbollwerkt ist? Da ich so tief in Ihr System geguckt, da ich weiß, daß Ihre Religion die Glückseligkeit ist – so konnte mir kein größeres Compliment gemacht werden, als, daß ich im Stande sey, mit etwas dazu beizutragen, wenn’s auch nur so viel ist, als ein Mäuschen zum Rhein. – Spaß bei Seite, die Glückseligkeit ist ein sonderbares Ding, ich glaube immer noch, daß wir schon hier in der Welt so glücklich seyen, als wir es nach der Einrichtung unseres Geistes und Körpers werden können. Die Tugend ist das einzige Mittel diese Glückseligkeit in ihrer höchsten Höhe zu erhalten und die Religion versichert uns, sie werde auch nach dem Tode währen und dient also dieser Tugend mehr zur Aufmunterung, als zur Richtschnur. Da kommt nun aber die verzweifelte Krankheit, von der Sie schreiben und wirft mir mein ganzes Kartenhaus über den Haufen. Allein sie muß doch auch wozu heilsam seyn, vielleicht, wie Sie sagen, ist sie das Fegfeuer unserer Tugend, wenigstens macht sie uns die Gesundheit desto angenehmer und trägt, durch den Contrast, also zu dem Ganzen unserer Glückseligkeit auch mit das Ihre bei. Wiewohl, ich habe gut philosophiren, da ich sie, dem Himmel sey Dank, schon seit so langer Zeit, blos vom Hörensagen kenne. Ich bin jetzt auch von lauter Kranken eingeschlossen und denke dabei beständig an Sie. Wiewohl ich aus dem Schluß Ihres letzten Briefes zu meiner Beruhigung schließe, daß Sie jetzt wieder völlig hergestellt seyen. Sie werden von Herrn Ott hören, wie ich mich amusire. Wenig genug und doch sehr viel. Wenn man Käse und Brod hat, schmeckt uns die Mahlzeit eben so gut, als wenn das Regiment
de Picardie
traktirt, vorausgesetzt, daß wir in einem Fall, wie im andern, recht derben Hunger haben. Um also glücklich zu seyn, sehe ich wohl, werde ich künftig nur immer an meinem Magen arbeiten, nicht an der Mahlzeit, die ich ihm vorsetze. Die Umstände, in denen wir uns befinden, müssen sich schon nach uns richten, wenn wir selbst nur fähig sind, glücklich zu seyn. – Bin ich doch ganz Philosoph geworden, werden Sie nur über mein Geschwätz nicht von Neuem krank! Den Herrn Senior habe ich nur in seiner Kirche besucht und noch nicht recht das Herz, ihn näher kennen zu lernen. Den Rektor der hiesigen Schule hab’ ich in seinem Hause besucht und möchte wohl schwerlich wieder hingehen. Ich fragt’ ihn nach den hiesigen Gelehrten: er lachte. Das war vortrefflich geantwortet, nur hätte der gute Mann die betrübte Ahndung, die dieses Lachen bei mir erregte, nicht bestätigen sollen. Er beklagt sich über den Schulstaub und die häuslichen Sorgen – da, da, mein theuerster Freund, fühlte ich eine Beklemmung über die Brust, wie sie Daniel nicht stärker hat fühlen können, als er in den Löwengraben hinabsank. In seiner Jugend, sagt’ er, hätte er noch
fait
vom Studieren gemacht, jetzt – o mein Freund, ich kann Ihnen das Gemälde nicht auszeichnen, es empört meine zartesten Empfindungen. Den heiligen Laurentius auf dem Rost hätt’ ich nicht mit dem Mitleiden angesehen, als diesen Märtyrer des Schulstandes, eines Standes, der an einem Ort wie Landau, mir in der That ein Fegfeuer scheint, aus dem man alle guten Seelen wegbeten sollte. Er hatte seine Bibliothek nicht aufgestellt, es waren bestäubte, verweste Bände, die er vermuthlich nur in seiner Jugend gebraucht – ausgenommen die allgemeine Welthistorie figurirte, in Franzband eingebunden, besonders. – Vielleicht daß ich da mich einmal bei ihm zu Gast bitte. Er scheint übrigens der beste Mann von der Welt – o Gott, eh’ so viel Gras über meine Seele wachsen soll, so wollt’ ich lieber, daß nie eine Pflugschaar drüber gefahren wäre. Jetzt bin ich ganz traurig, ganz niedergeschlagen, blos durch die Erinnerung an diesen Besuch. Nein, ich darf nicht wieder hingehen. Wie glücklich sind Sie, mein Sokrates, wenigstens glänzt eine angenehme Morgenröthe des Geschmacks in Straßburg um Sie herum, da ich hier in der ödesten Mitternacht tappend einen Fußsteig suchen muß. Keine Bücher! ha Natur, wenn du mir auch dein großes Buch vor der Nase zuschlägst (in der That regnet es hier seit einigen Tagen anhaltend), was werd’ ich anfangen? Dann noch über die Glückseligkeit philosophiren, wenn ich von ihr nichts als das Nachsehen habe? Doch vielleicht kriegt mich ein guter Engel beim Schopf und führt mich nach Straßburg. – – Meine Lektüre schränkt sich jetzt auf drei Bücher ein: Eine große Nürnbergerbibel mit der Auslegung, die ich überschlage, ein dicker Plautus, mit Anmerkungen, die mir die Galle etwas aus dem Magen führen und mein getreuster Homer. Ich habe schon wieder ein Stück aus dem Plautus übersetzt und werd’ es ehestens nach Straßburg schicken. Es ist nach meinem Urtheil das beste, das er gemacht hat (doch ich kenne noch nicht alle). Noch an eins möcht’ ich mich machen: es ist eine Art von Dank, den ich dem Alten sage, für das herzliche Vergnügen, das er mir macht. Ist es nicht reizend, nach so vielen Jahrhunderten, noch ein Wohlthäter des menschlichen Geschlechts zu seyn?
Heut’ möcht’ ich Ihnen einen Bogen voll schreiben, aber ich besinne mich, daß das, was mir ein Präservativ für eine Krankheit ist, Ihnen leicht ein Recidiv geben kann. Ich bin ganz der Ihrige
Lenz.
Provenienz
August Stöber: Der Dichter Lenz und Friederike von Sesenheim. Basel 1842, S. 62–66. Stöber spricht davon, dass „einige unvollständige Blättchen bei den Briefen [liegen], welche einzelne philosophische und theologische Betrachtungen, besonders über Leibnitz, enthalten.“ Die Manuskripte der Briefe an Salzmann sind beim Brand der Straßburger Bibliothek 1870 verloren gegangen.