Landau, wahrscheinlich Ende Oktober 1772
Der Brieftext wurde sekundär überliefert.
Jakob Michael Reinhold Lenz
Johann Daniel Salzmann (Straßburg)
LKB
Hier haben Sie wieder ein Blättgen mit einer Hypothese. Untersuchen Sie sie, halten Sie sie an den Probierstein der Wahrheit – Der menschliche Verstand muß von der höchsten Wahrscheinlichkeit zur Wahrheit übergehen; ich habe zu dieser schärfern Untersuchung keine Zeit – auch keine Fähigkeit, ich überlasse sie Ihnen. Sie sagten in Ihrem letzten Briefe, Gott thue alles zu unserer Besserung mittelbar und könne dazu nicht unmittelbar in uns wirken. Ich bin Ihrer Meinung, doch nur in einer gewissen Einschränkung. Sie sollen sie sogleich hören.
Leibnitz, da er den Ursprung des Bösen mit der höchsten Güte Gottes reimen will, hält viel auf diese unmittelbare Einwirkung, oder Einfluß der Gottheit, welchen er eine immerfortwährende Schöpfung nennt. Er vergleicht ihn einem Strom, der seinen Lauf hält, die Freyheit des Menschen aber einem Boot auf diesem Strom, das, je nachdem es schwerer oder leichter beladen, langsamer oder geschwinder auf demselben fortgeht. Da die Sünde eigentlich in einer Privation des Guten besteht und also die Quelle derselben nichts als Trägheit ist, die von unsern Fähigkeiten nicht den gehörigen Gebrauch machen will, so gleicht diese Trägheit der Last oder Schwere des Boots und kann die Schuld warum letzteres nicht so geschwinde fortgeht, nicht dem Strom, sondern dem Boot zugeschrieben werden. Man kann ihm aber, und mich deucht mit Recht, einwenden, warum der Strom nicht mit einer solchen Geschwindigkeit und Kraft fortfliesse, daß er die kleine Schwere des Boots überwinde und aufhebe? und da bleibt bei Zulassung des Bösen von Seiten Gottes immer dieselbe Schwürigkeit. Ich glaube weit sicherer zu gehen, wenn ich mich bei der einmal angenommenen Lehre von der Erhaltung Gottes (welche allerdings
wahr
ist), an dem Wort
Erhaltung
halte, und also keine fortwährende Schöpfung unter derselben verstehe.
Fortwährend
ist freilich ein Begriff, der der Gottheit angemessen ist, allein eine solche
Schöpfung
nicht. Wenigstens kann sich unser Verstand keine Schöpfung denken, die in Ewigkeit fortgeht, denn Schöpfung ist nach der einmal angenommenen Bedeutung des Wortes, eine
Hervorbringung aus Nichts
, die nur einen Augenblick währen könnte, nemlich den, da Gott sprach: Es werde!
Bildung
dieses Etwas, die kann fortgehen in Ewigkeit, aber nicht die unmittelbare Schöpfung. – Nun hat Gott uns gewollt, das heist er hat uns geschaffen, als freywillige und selbstständige Wesen, versehen mit gewissen Kräften und Fähigkeiten, von denen wir einen Gebrauch machen können, welchen wir wollen, und wenn wir einen Einfluß Gottes in uns annehmen wollen (welches uns Vernunft und Offenbarung heißet, weil wir
abhängige
, geschaffene Wesen sind), so ist dieses kein anderer, als der allgemeine, den Gott in die ganze Natur hat, vermöge dessen er nach den ewigen Gesetzen der Natur, die in ihr gelegten Kräfte und Fähigkeiten
unterstützt, erhält
, daß sie nicht ins vorige Nichts zurückfallen. Wenn wir diese Handlung auch eine
Schöpfung
nennen wollen, so mag es hingehen, nur muß man alsdann die
fortgehende Wirksamkeit Gottes
von diesem Begriff absondern. Diese Einwirkung Gottes ist die allgemeine und wird schon in der Bibel, durch den mystischen Ausdruck angezeigt: der
Geist
Gottes schwebte auf den Wassern. Ich kann diese Stelle nicht anders erklären als: die allerhöchste Kraft Gottes unterstützte die in die Natur gelegten Kräfte, daß sie ihre ihnen beschiedenen Wirkungen hervorbringen konnten. Bei dieser Erklärung bleibt also Gott in Ansehung des Ursprungs des Bösen vollkommen gerechtfertigt. Wir konnten unsere Kräfte gebrauchen oder nicht, in der von ihm gesetzten oder in einer entgegen gesetzten Ordnung gebrauchen; er konnte nicht anders thun, als da er nach seiner Allwissenheit unsern Fall voraussah, ihm durch äussere Mittel zu
Hülfe
kommen. Hier ist das Geheimniß unsrer Erlösung, das in der That immer ein Geheimniß bleibt und wir ganz zu entziffern uns nicht unterstehen dürfen. So viel ist aber klar dabey, daß durch die Offfenbarung seiner Gnade in Christo Jesu, er nichts anders abzwecken will, als unsere Wiederherstellung in den Stand der Unschuld, welches gleichsam die weisse Tafel ist, welche hernach beschrieben werden soll, und aus diesem in den Stand der Glückseeligkeit, der Aehnlichkeit mit ihm, der höchsten Liebe zu ihm, und der höchsten Freude, die aus der zunehmenden Erkenntniß seiner Vollkommenheiten und der immer näheren Annäherung zu ihm fliesset. Christus redt aber auch von einem Geist Gottes den Er uns senden will, der uns alles vollkommen lehren und unsere Freude vollkommen machen soll, den auch wirklich die Apostel in hohem Maaß empfiengen. Dieses kann nicht anders erklärt werden, als durch eine unmittelbare Einwirkung der Gottheit, die unseren natürlichen Fähigkeiten – wenn wir sie unermüdet recht anwenden –
zu Hülfe
kommt, doch allezeit in dem Grade, als es der höchsten Weisheit Gottes und der Uebereinstimmung der von ihm angerichteten Schöpfung angemessen ist. Die Wirkungen dieses Geistes sind vorzüglich: der unerschütterliche Glaube an Gott, als die höchste Liebe (es mögen alle äusserlichen Anscheine auch dem zuwider seyn), an Christum, als den Vermittler dieser Liebe, der sie uns nicht allein kennen gelehrt, sondern auch in gewissem Sinn erworben; hernach eine aus diesem Glauben fliessende Liebe zu Gott, denn wer sollte den nicht lieben, von dem er
glaubt
, daß er ihn unendlich glücklich machen will und eine geschwinde Fertigkeit, dem von ihm erkannten Willen nach zu leben. Diese Wirkungen des Geistes Gottes müssen wir aber nicht mit Augen sehen wollen, oder darauf warten; sie sind Trost und Belohnung unserer guten Aufführung, auch
Aufmunterung
(dies scheint vorzüglich ihre Absicht), weil die menschliche Natur so viel Trägheit hat, daß sie in den allerbesten erlangten Fertigkeiten doch wieder müde wird, sie sind das
complementum moralitatis
und können uns in diesem ganzen Leben dunkel und unerkannt bleiben und uns dennoch ohne unser Wissen, forthelfen und glücklich machen, wie ein unbekannter Wohltäter, der einem Bettler Speise und Trank reichen läßt, ohne daß er weiß, wo es herkommt; genug er befindet sich wohl dabey und überläßt es der Zukunft ihm seinen Wohltäter zu zeigen, damit er ihm alsdann den Dank ins Gesicht sagen kann, den er jetzt für ihn in seinem Herzen behält.
Ich gebe diese Hypothese, die noch dazu so roh und undeutlich ausgedrückt worden, als sie in meinem Verstande ausgeheckt ward, Ihnen hin, sie zu bearbeiten, alles zu prüfen und das Beste zu behalten. Wenigstens müssen wir doch suchen in die Ausdrücke der Bibel einen
Sinn
zu legen, der mit unserm Verstande übereinkommt; Geheimnisse bleiben immer Geheimnisse, doch müssen die Linien unserer Vernunft hineinlauffen und sich hernach drin verlieren, nicht aber eine Meile weit seitwärts vorbeygeführt, hernach mit Gewalt hineingebogen werden, welches eine
krumme Linie
geben würde.
Um über eine so wichtige Materie mit der höchsten Aufrichtigkeit zu schreiben, muß ich Ihnen nur schreiben, daß ich bey meiner einmal angenommenen Erklärung der Lehre vom Verdienst Christi bleibe, und daß ich mir keine andere denken kann, die mit dem was die Schrift davon sagt und mit dem was unsere Vernunft von Gott und seinen Eigenschaften erkennt, übereinkommt. Lassen Sie uns sie nur deutlicher machen und Sie werden mir Recht geben.
Was ist das Gute anders, als der gehörige und rechtmäßige Gebrauch, den wir von unsren Fähigkeiten machen? Und das Böse, als der unrechtmäßige übelübereinstimmende Gebrauch dieser Fähigkeiten, der, wie ein verdorbenes Uhrwerk, immer weiter im verkehrten Wege davon fortgeht; so wie der gute Gebrauch immer weiter in dem graden und richtigen Wege. Wir sind selbstständig – Gott
unterstützt
die in uns gelegten Kräfte, wie in der ganzen Natur, ohne sie zu
lenken
– Wir (sey es nun die Schuld einer uns angebohrnen Trägheit, die die Theologen Erbsünde nennen, oder des bösen Beyspiels, welche ich fast eher dafür halten möchte), wir brauchen die Fähigkeiten verkehrt. Gott kommt durch eine ganze Folgenreihe äusserer Mittel (welche ich
Gnade
nenne und wohin in der Jugend besonders die Tauffe und das Wort Gottes zu rechnen), wozu besonders auch die zeitlichen Umstände gehören, in die er uns versetzt.
Wir hören nun, daß ein vollkommener Mensch gelebt hat, durch den sich Gott uns ehemals sichtbar geoffenbart und angekündigt hat; daß, wenn wir den
rechten
Gebrauch von unsern Fähigkeiten machen wollen, wir schon hier – und in Ewigkeit glücklich oder seelig sein sollen –; wir hören, daß, nach dem Ausdruck der Bibel, alle bisher begangenen Sünden der Menschen auf ihn gelegt werden, daß er sie trägt (was kann dies Anderes heißen, als daß alle üblen Folgen der Sünde auf ihn gelenkt worden? Darin bestand sein
Leiden
) – Wir sollen nur glauben, daß Gott uns um seinetwillen gnädig sey; dies soll uns also nicht mehr beunruhigen, nicht mehr zurückhalten an unserer Besserung mit allen Kräften unserer Seele zu arbeiten, weil das Alte alles vorbey und wir gleichsam jetzt neue Glieder an einem großen Ganzen sind, wovon der allervollkommenste Jesus das Haupt war (hieher geht eine gewisse geistliche Vereinigung vor, die mir im Abendmahl scheint zum Grunde zu liegen, denn wer wollte alle Geheimnisse der Religion ergründen?)
Also,
voilá tout
. Wenn wir diese Hülfsmittel alle, die uns die Gnade darbeut, annehmen,
bon ça
, es soll nicht dabey bleiben; wir sollen einmal einer unmittelbaren göttlichen Einwirkung fähig werden, die in der Bibel die Sendung des h. Geistes heisset, die uns Gott immer mehr erkennen und lieben lehren wird, die uns, wenn wir dazu reif, zum Anschauen Gottes bringen wird – aber dazu gehört freilich Zeit!
Lenz.
Provenienz
August Stöber: Der Aktuar Salzmann, Goethe’s Freund und Tischgenosse in Strassburg. Frankfurt am Main 1855, S. 71–77. Stöber spricht davon, dass „einige unvollständige Blättchen bei den Briefen [liegen], welche einzelne philosophische und theologische Betrachtungen, besonders über Leibnitz, enthalten.“ Die Manuskripte der Briefe an Salzmann sind beim Brand der Straßburger Bibliothek 1870 verloren gegangen.