Zürich, 11. Mai 1777
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Jakob Michael Reinhold Lenz
Gertrud Sarasin (Basel)
LKB
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Zürich. d. 11ten May 1777




Hier sind Pfeffels Lieder wieder, meine würdigste Freundinn! freylich muß ich mich schämen, daß ich so spät damit bin, Ihre Geduld und vielleicht Ihre Sanftmut selbst auf eine so unverschämte Probe gesetzt, doch wenn Sie alles wüßten was ich zur Entschuldigung sagen könnte und doch nicht sage, würden Sie mir das verstohlne Vergnügen etwas aus Ihrer Brieftasche bey mir zu tragen, vielleicht noch länger gegönnt haben.
Ganz gewiß werden Sie sich den ersten Akt der verabredeten Comödie hiebey vermuthen so gewissenhaft ich aber daran gearbeitet so hab ich doch so wenige Augenblicke ganz zu mir selber kommen können, daß Ihr liebes Gedächtniß vor der Hand noch ein Weilgen Ruhe haben wird. Es kommt aber gewiß so wie alles
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was ich verspreche und ich hoffe etwas davon Herrn Sarasi (den ich schon unterwegens vermuthe) in Schinznach vorlesen zu können.
Um eines aber habe ich Sie noch zu bitten, ich habe unter den Gedichten das artigste vermißt, eine Epistel an Sie, in der unser hellsehende Blinde ein so getreues Porträt von Ihnen machte. Wollen Sie mich in die glücklichste Laune setzen unser angefangenes Stück, woran Ihnen doch vielleicht etwas gelegen seyn wird, bald und zu Ihrer Genugthuung zu endigen, so lassen Sie mir dieses nebst ein Paar Zeilen von Ihnen, aber wohl zu merken im Schweitzer Teutsch, zu kommen, Sie können sichs nimmer vorstellen, wieviel Begeisterndes diese Sprache in Ihrem Munde für mich hat.
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Sie dürften Ihren Brief nur an Herrn Sarasi adressiren, daß er mir ihn nach Zürich, oder wo ich von da hingehen werde wenn ich von Schinznach zurückkomme, schickte, er wird mir eppen eine außerordentliche Freude machen und die Rolle die ich für Sie ausarbeite nur desto besser ausfallen.
Empfehlen Sie mich allen Freunden Ihres Hauses die ich nicht in Schinznach zusprechen die Ehre haben sollte. Ihren kleinen Inokulierten druck ich manch herzliches Küßgen auf ihre Narben und höre Sie oft im Geist ihnen kleine Geschichtgen erzehlen. So habe ich auch dem letzten Ball unsichtbar zugesehen, Sie haben recht viel getanzt.

Da lenkten im reitzenden Wirbel
Die Grazien selbst Ihren Flug
und machten dem schnappenden Tänzer
Entzückender Schmerzen genug.



Empfehlen Sie mich den Neuvermählten und Ihrem Hn. Schwager gleichfalls und bereiten sich nur auf eine recht beschwerliche Gedächtnißarbeit.
Lenz.
Provenienz
Basel, Staatsarchiv, PA 212 F 11, 27, 10, Nr. 1. Beilage „Pfeffels Lieder“ nicht ermittelt.