Riga, 13. Oktober 1779 (datiert nach dem Julianischen Kalender: 2. Oktober 1779)
Der Brieftext wurde anhand des Originals kritisch geprüft.
Jakob Michael Reinhold Lenz
Johann Gottfried von Herder (Weimar)
LKB
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Riga d. 2ten 8br 1779
a. St.

Theurester Bester!

Verzeyhen Sie die Form dieses Briefs, wie die Zumuthung die er enthält und setzen beydes auf die Rechnung des strengsten Vertrauens nicht in Ihre Freundschaft und Güte für mich, die, wie ich aus Proben ersehen unbeschränkt ist – sondern in Ihre Gerechtigkeit und Wahrheitsliebe. Ich bitte diese Worte nicht nach dem Herkommen gedruckter Stutzernomenklatur – sondern diesmal nach der Bedeutung der Einsamkeit und ihres Entschlusses auf immer zu nehmen. Also fort für diesmal mit allen äußern Verhältnissen, die die schnelle Sprache dessen was eine besondere Lage der Umstände jetzt auf mich wirken muß, nur höchst unfruchtbar aufhalten würden.
Ich komme eben von einem Besuch in Gesellschaft meines lieben grauen Vaters und eines jüngeren Bruders, der Sie in Weymar gesehen, wo ich auf die sonderbarste Art von der Welt in die Enge gebracht bin. Die zärtesten Sayten meines Herzens und möcht ich sagen, einer gewissen Art von Ehre deren System ich eben nicht recht von mir geben kann, sind angeschlagen und – kurz ich bin diesmal in großer Verlegenheit – – die vielleicht durch diesen Brief noch vergrössert wird; aber genug, ich kann mir nicht helfen. Es ist lange vor meiner Ankunft in Riga von einer Besetzung des nur halb erledigten Rektorats der Dohmschule (von dem Hr. D. Schlegel sich den Theologischen Theil vorbehält) die Rede gewesen. Mir hatte man gleich bei meiner Ankunft ins Land verschiedene Vorschläge nach Petersburg gemacht, von denen mein Herz, weiß ich aus was für Besorgnissen, zurücksteuerte, doch ohne sie ganz aufzugeben. Ein Gönner meines Schwagers
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ein Edelmann der es auch ohne Geburt seyn würde, den soll ich sagen sein Herz oder sein Geschmak der auf Ambassaden bis nach Spanien, wohl hat ausgebildet werden können, auch mir sehr anziehend machen – schon damals gemacht hatten, als er von seinen ersten Reisen als blosser Cavalier durch Königsberg nach Hause zurückgieng; erscheint in unsers Freund Hartknochs Laden. Außer dem Anzüglichen seiner Person, hielt ichs in Ansehung meines Schwagers, der von dem Hause viel Güte genossen, für Pflicht, ihn – und zugleich dem Haupt dieser Stadt, seinem Schwiegervater die Aufwartung zu machen. Ich beredte, weil er von einem vorhabenden Besuch bey meinem Vater sprach, den Altgen mit dazu, ihm zuvorzukommen. Wir treffen ihn nicht zu Hause, wohl aber den Hn. Bürgermeister, einen der thätigsten und ausgezeichnetsten Patrioten der Stadt und – stellen Sie sich meine Verwirrung vor, als ganz unvorbereitet, ganz überraschend für mich und vermuthlich für alle die gegenwärtig waren, mit der Naivität von der Sie sich bey meinem Vater nur eine dunkle Vorstellung – auch Sie! machen können, er förmlich bey der Schule für mich anspricht, und wenn ihnen ein Subjekt dazu fehlte, mich – unparteyisch – welch ein Ausdruck – unparteyisch dazu empfielt. Herr Burgermeisters S. Miene die sich dabey sichtbar veränderte, machte mir den Mann noch einmal so ehrwürdig, denn nun hatte ich wenigstens meiner eignen Verlegenheit etwas zuzugesellen. Noch mehr aber seine langsame und geflissentlich
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überlegte Antwort: es sey deswegen an auswärtige Gelehrte geschrieben worden, von denen zwey abgesagt, itzt steh man mit einem dritten in Traktaten habe aber auch zugleich an Sie – geschrieben und wolle in dem Stück ganz und gar auf Ihre Empfehlung fussen. Itzt hätte mir wohl werden sollen, und mir wards – aber nicht so ganz – ich gehe zu einem Freunde wo ich von andern in das Fach hin einschlagenden Dingen sehr beunruhigt, aber ohne daß sie mich selbst angiengen, zu sprechen hatte, komme zurück und will sehen, was unsers Hartknochs sehr üble Brust heute macht und – find ihn an einer Post nach Leipzig die er expedirt, und mir Pappier und Feder hinlegt, wenn ich auch an jemand schreiben wollte. – An wen anders als an Sie – – mich zu empfehlen? nicht doch – Ihre Empfehlung zu erbitten, zu verbitten – auch nicht, kurz ich weiß selbst nicht was ich will, was ich soll – – aber an wen anders kann, darf ich das schreiben als an Sie – Freund Goethe – hat mich wohl vergessen – mag will wie ich sehe sich in keins meiner Angelegenheiten mehr mischen, wird vielleicht durch jede Art meiner Zuschriften selber soll ich sagen beleidigt? – – doch gewiß beunruhigt – und soll ich empfolen sein – wär ichs am liebsten von Ihnen. Guter Gott, aber Sie kennen, wenn Sie mein Herz ja kennen, weder mein Geschick überhaupt noch zu einer solchen Stelle in sonderheit. Soviel sag ich Ihnen frey und wills druken lassen, daß in
meinem Vaterlande
mir eine solche Stelle die wünschenswertheste wäre. Und wem sollte sie es nicht seyn. Ich wollte solang wenigstens an mir pressen
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bis das was ich gutes und vortheilhaftes draussen eingesogen, ausgedrükt wäre, mögte man hernach mit dem löchrichten Herzen machen was man wollte. Bey alledem aber habe ich die Theologie – nicht gründlich studirt, kann auch keine grosse Theologen auf die grosse Bühne der Welt schicken. Dafür aber hab ich mich ein wenig in der Geschichte und Gesetzen meines Vaterlands umgesehen, die ich immer fleissiger mit Zuziehung der erfahrensten Männer zu studieren gedenke, will dabey gern in dem bißgen Griechisch und modernen Sprachen, was ich weiß, auch in der sogenannten schönen Kenntniß von Kunstwerken und Kunstsachen, auch wenn der Adel, der fast den zahlreichsten Theil unsers Landes ausmacht und um Unterricht verlegen ist, mit zu unsrer Bürgerschule gezogen werden soll, in besondern Stunden in dem historischen Theil der alten und neuen Taktik Fortifikation u. s. f. soweit Unterricht geben, daß er hernach praktischem Unterricht schneller nutzen kann, so auch in Staatsgeschichte und
Staatswirtschaft
welches mir ein Hauptbedürfniß meines Vaterlands scheint – auch lateinische Autoren lesen, und Redübungen mitbetreiben helfen, nach meinen Kräften –
Wissen Sie ein redlicheres, stärkeres und ausdaurenderes Subjekt für diese Anstalt deren Einrichtung so wie die Stärke und Umfang seiner Nerven, Kräfte und erworbenen Anlagen Sie kennen, so bezeuge ich hiemit vor Gott – den ich nicht leichtsinnig zum Zeugen nehmen mag – daß ich der Anstalt Glük wünschen und mit dem Schmerz hier nicht haben nützen zu können mich auch a
hnen lernen werde ohne einen Gedanken von
le den, Ihnen und Ihnen ähnlichen, mit voller warmer Hochachtung gewiedmeten wegzugeben oder ärmer an
m Gefühl zu
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werden, mit dem ich auch schweigend mich jederzeit und überall nennen werde
Ihren
gehorsamstergebensten
JMR Lenz.

eingerahmt:

Mein Vater ist – für mich – reich, so auch meine Geschwister. Daß also das nicht in Anschlag kommen darf.
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Provenienz
Kraków, Biblioteka Jagiellońska, Lenziana, Sammlung Autographa 2. Textverlust durch Ausriss.