Ohlershoff [Oleri], 26. November 1780
Der Brieftext wurde anhand des Originals kritisch geprüft.
Jakob Michael Reinhold Lenz
Friedrich Konrad Gadebusch (Dorpat [Tartu])
LKB
2
3
4
HochEdelgebohrner Herr!
Insonders Hochzuverehrender Herr Justiz-Bürgermeister!






Da ich auf einige Zeit meinen Aufenthalt beym Herrn Assessor von Engelhardt nehmen werde: so nehme mir die Freyheit, Ew. Hoch Edelgebornen um eines der grösseren Werke aus Dero Bibliothek zum Durchblättern gehorsamst zu ersuchen, für dessen unschadhafter Zurücklieferung Denensebhen mein Bruder gut stehen wird. Sollten Dieselben Ihren Schlegel, oder das Theater der Ansprüche p. füglich entbehren können, würden Sie die Schuld meiner sehr frühen Verbindlichkeiten gegen Sie vermehren.
In einem Briefe an den Herrn Kabinettssekretär N– kam ich auf die Derptsche Akademie, welche ich ihm als dem Zögling des großen Schöpflins des Stifters so mancher deutschen
2
Akademieen ans Herz zu legen versuchte. In der That ist das Beyspiel des Russischen Adels beschämend für den unsrigen, der seinen Namen unsterblich machen und zugleich die Preise seiner Güter und der Landesprodukten erhöhen könnte. Man bedenke nur, was durch 500 Akademisten allein, die eine Menge feinerer Bedürfnisse aus dem väterlichen Hause mitbringen, für Geld in Umlauf kommen würde, wenn wir auch die erspahrten Summen nicht rechnen, die der Edelmann itzt mit seinen unverassekurirten Söhnen aus dem Lande schickt, oder lieber ins Wasser wirft. Ich wagte es, Herrn N. zu behaupten, daß wir Jena Leipzig und einer Menge sonst unwichtiger Städte in Deutschland ihren Flor gegeben. Ich wagte es, ihm die Parallele
3
von Strasburg zu Frankreich und Derpt zu Rußland zu ziehn, die in sofern ziemlich passend bleibt, da wir sonst keine, Frankreich aber noch viele andere blühende Akademieen hat. Und doch kommen aus Gascogne und Languedoc Franzosen dahin um Deutsch und Lateinisch zu lernen. Zugleich studiren dort Ungarn, Russen, Pohlen u. s. f. Unsere einheimischen neuveränderten Rechte, Ukasen u. s. f. erfodern gewiß eben sowohl ihre eigene Doktoren, als der Körper Justinians: gleiche Ansprüche macht die sehr versäumte Vaterländische Geschichte, die Pastoraltheologie und Homiletik, wie sie für unsere Bauren paßt, samt den Landessprachen, die unsere Prediger oft erst für die andere Welt vollkommen erlernen; imgleichen der einheimische Landbau, über den bisher immer der Vorurtheilvolle sclavische Bauer und ausländische Bücher die uns nichts fördern, die letzte Instanz bleiben. Was den Plan anbetrift, so ist
4
bei einer Sache die die Natur vorbereitet, kein weit aussehender Plan nöthig, als den sie selbst mitten unter der Ausführung an die Hand giebt, wie sie es bey allen Dingen macht, die nicht in der Idée sterben sollen. Man vergißt, daß die grossen Flüsse aus kleinen Quellen entstehen und wenn wir Müllers russische Geschichte lesen, kommt uns der ehemalige erste Fonds der Derptschen Akademie unglaublich vor. Ein einziges Kransgut würde zur ersten Besoldung der nöthigsten Professoren hinreichen und wenn wir die Mittelzahl von 500 Rbl., die jeder Student überhaupt in Derpt liesse annehmen (die in der That sehr geringe ist) sich bald bezahlt haben, wenn dis Geld auf einmal in die Cirkulation käme; kämen vornehme Russen dazu, die ohnehin von unsern Sitten mit Recht vortheilhafte Begriffe haben und an dem Umgang des umliegenden Adels bald Geschmack gewinnen würden, so würde Derpt in kurzem eine der mächtigsten Städte seyn. Und wieviel würde die Population unter allen Ständen gewinnen, durch die größere Menge der Domestiken, Familienannäherungen, Bekanntschaften, Verbindungen mehrerer Städte mit dieser p.
Doch ich ermüde Sie mit einem Auszuge, der von lauter schon oft gesagten Dingen spricht. Ew. HochEdelgebornen
gehorsamster Diener
JMR Lenz.

Ohlershoff d. 26sten Nov 1780.
4
am linken Rand, vertikal
left
Meinen Respekt an Dero Frau Gemalinn. Mein Bruder aus Pernau wird Denenselben bereits geschrieben haben. Wenn Ew. HochEdelgeb. eines oder das andere der Petersb. Manuscripte zu sehen wünschten, so bitte mir nur Nachricht davon zu geben.
4
am linken Rand, vertikal
left
Provenienz
Riga, Latvijas Valsts Vēstures Arhīvs, Fonda 4038, Aprakst 2, Lietas 1642, (Nr. 209), S. 779–782.