Moskau, wahrscheinlich Herbst 1790
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Jakob Michael Reinhold Lenz
Christian David Lenz und Dorothea Charlotte Lenz (Riga)
LKB
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Lieber Papa


Die unglükliche Leidenschaft welche sich meiner in Liefland bemächtiget und ihre häuffigen ernstlich väterlichen Briefe nach Petersburg und Moskau mir so oft vergeblich ausgeredet die mein Bruder und alle meine Verwandte so heftig bestritten und die ich deswegen auch aus meinem Herzen zu reissen versuchte hat sich desselben wieder bemächtiget So spielt das Schiksal mit unserm Herzen und unsem Wünschen und der Rath meiner schreibenden bärtigen Freunde, die sich mir unter der Gestalt meiner angebetheten Julie welche denen Frauenzimmern Lieflandes ein Collegium von den Sitten der alten Teutschen aus dem Tacitus mit einigen teutschen und esthnischen Reimen unter meinem Fürsitze zu eröfnen nach Maurerischen Zeichen und Regeln sich endlich rühmlich entschlossen mich den Gebeinen des verewigten Zingischans und Tamerlans schwören lassen müssen und demzufolge alle die[sje unterirrdischen Geister in Anspruch und Einspruch genommen
Es wird in diesem Collegio ein Oratorium vorkommen welches Medea heißt die den Jason verjüngerte und ihre Kinder umbrachte auch eine Hölle und ein Orpheus denn ohne diese giebt es weder Musikalisches noch Poetisches Vergnügen, weil nach dem Tode kein Vergnügen statt hat und Engel und Geist die Schimäre eines verborgnen Giftes sind Diese ehrwürdigen alten Geheimnisse aber, noch daß es ein Verbrechen ist sie anzutasten, versteht der überwitzige Geist unsrer Liefländischen Damen nicht welchen wir durch witzeln wieder in die rechte Leise setzen wollen und ihnen beweisen daß auf der ganzen bewohnten Erde unter Gelehrten und Ungelehrten noch Spuhren dieser ehrwürdigen Phrygersitte und des einzigen rechten seelig machenden Glaubens von welchem abzuweichen dem Schwerdte die weil er seinen eignen Schild und zwölf Apostel hat – – und alle die ihm nicht beypflichten wollen rundweg für Türken und Mameluken zu erklären das Recht hat - ja ihnen nicht nur öffentlich sondern auch heimlich nach Ehre guten Namen zeitlichen wo möglich ewigen Wolfarth zu stehen in den Weg zu treten zu äusern völlige uneingeschränkte Vollmacht und Gewissensfreiheit weil er von dem einzigen rechten Dienst der Phönizier und Anbeter des Herkules und Jason gewichen und zügellosen Leidenschaften und schwännerischen Einbildungen gleich des Oehlgötzen frohnet –

Zärtlichgeliebte Geschwister
vielgeliebte Schwester!

Dein letzter Brief hat mich sehr gerührt, ich habe daraus ersehen daß du dich vollkommen wohl befindest, dein lieber Mann ist wieder gesund und munter, seine äusseren Umstände haben sich verbessert, eure Familie vermehrt, es fehlet euch also nichts zur irrdischen Glükseeligkeit als ein wenig Iangeweile oder wie du mir mit deiner so eignen Naivetät schreibst ein Virtuos, den zu zum Narren brauchen könntest wenn du schwermüthig wirst. Soll ich dirs rein deutsch heraus sagen noch obenein ein Liebhaber denn das kann bey allen andern Vergnügen nichts schaden wenn man einen Nothnagel auf schlimmes Wetter übrig behält.
Liebe Schwester du bist sehr naif. Deine Offenherzigkeit freut mich mehr als die Scheinheiligkeit der Bethschwestern die ihre wahren Gesinnungen verbergen. Nach wem soll man sich denn umsehen wenn man in den Wagen steigt? Wer soll einem die Hand bieten wenn man in die Assemblee fährt. Diese Höflichkeiten will dir gerne gestatten, aber, aber – und wer soll bisweilen einen artigen Vers auf mich machen? – Wunder- 20 bare Grillenfängerin! muß denn das ein Liebhaber seyn? Ja sonst gefallen sie nicht und gerathen nicht. Umgekehrt! dem Liebhaber gerathen keine Verse, der artige Mann lügt mit kaltem Blut und viel schöner als es ein Liebhaber je thun kann, er lügt in des Liebhabers Namen. Die Regel ist nicht ohne Ausnahme, aber das ist zu verlässig, je besser gesetzt je feiner gereimt gedacht gerundet der Vers je mehr die Seele in der rechten Harmonie, desto weniger liebte der der ihn machte. Die Liebe begnügt sich wenn sie in den Fall kommt mit ängstlichen einzelnen Lauten, und
be
hält das beste zurük: der schöne Geist und artige Mann wird ein freygebiger Gastwirth und stellt das letzte aus sieben Schüssern auf den Tisch, denn er ist großmüthig
Was soll das Wimmern und Püsteln närrisches Weib wenn eins deiner Kinder kränkelt. Ist nicht jemand da einen Vers darauf zu machen? Er ist gewiß ein Narr denn er machte Verse auf ein Weib das ihn nicht lieben durfte sie also wie die Zukerdüten brauchte, die man doch annimmt wenn sie aus gutem Herzen kommen und auch in den Mund stekt wenn einem bitter wird. Aber er muß ein Liebhaber seyn und muß fallen sonst schmeken sie nicht – Schwester Schwester – Und du suchtest dir einen Geheimsekretär?
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vielleicht die Windeln deines Kindes zu troknen oder zu besingen – Ey ey! so böse hast du es doch nicht gemeint – Nicht alle Windeln sind Windeln – Und wenn du nur die Seele deines Geheimsekretärs auf dein Gewissen ladest. O dafür ist Rath, unsere heutigen Poeten wissen allem eine Farbe zu geben –
Ganz gut aber was wird denn nun aus deinem Geheimsekretär – Dein Narr – das ist doch ein bisgen zu unfreundlich – danke ihm ab und mache ihn wieder zu dem was er war zu einem höflichen artigen Mann der nicht über den Wolken schwebt und nicht unten im Abgrund auf Tarnedans und Bajazeth und Zingischans Stuhl sieht denn das waren Heilige der ersten Ordnung die vielleicht auch Orden stifteten –
Laß uns ehrlich sprechen, die heutige Welt weiß nicht was sie will. Alles möchte gern beliebt seyn und gefallen und daran ist nichts versehen denn du gefällst wenn du nicht zu gefallen meynst und wirst unleidlich so bald du es merkst daß du gefällst. Aber man möchte nicht gern daß ein andrer gefiele, damit haben wir alle zu kämpfen. Und warum nicht liebe Frau wenns ein ehrlicher Mann oder ein ehrliches Stük Weisbild ist das dir auch gut ist und nützlich werden kann. Aber wehe deinem Geheimsekretär wenn er ein Weib berührt – denn dein ganzes irrdisches Glük ist hin. Er mag sich auftausendmal fünfhundert Meilen weit von dir verheurathen, wo man nichts von deiner Schönheit gehört hat – Liebe Frau! Und was ist Schönheit – – Mach mich nicht zum Pilatus – dein Spiegel ist falsch – er zeigt dir dein Gesicht nie in dem
Augenblik
wenn solche Gedanken in deiner Seele sind und diese entstellen deine sanfte liebreiche Gebehrde –
Den Vorzug – ey da ist kein Vorzug – die wahre Liebe weiß von keinem Vorzug – der Liebhaber gefällt weil er liebt, die Geliebte weil sie geliebt wird. Der Liebhaber findt tausend Frauen schöner besser milder als seinen Gegenstand, aber er liebt seinen Gegenstand weil es so seyn muß, weil er gezwungen dazu ist er ist ein Unglüklicher! du kannst ihn bedauern aber du brauchst ihm nicht feind darum zu werden. Die andern Schwestern lachen darüber
Aber was bleibt mir denn übrig, wenn er eine andre liebt? Nichts gar nichts! der Schurke bezahlet mir meine Rechnung nicht, er ist ein Betrüger Nicht so ganz als du meynst. Er hat sich nur versehen er glaubte dich zu lieben und liebt dich in einer andern. Sieh einmal er liebte dich auch vielleicht nicht bloß um der weissen Schürze willen, oder um sein Glük durch dich zu machen oder um Brod zu erhalten oder – doch was ist vom Geschmak zu reden jeder Mensch hat seinen Geschmak und man muß dem Geschmak seine Grillen lassen. Das ist eine Philosophie die kein Barometer ausschöpft - dem einen gefällt das natürliche, dem das künstliche, dem das eigennützige, dem das freye dem das eiffersüchtige, dem das unschuldige
Was macht deine Freundin am Hofe? Oder ist sie schon wieder zurük? Hat sie nicht auch ein Paar geheim Sekretäre dort gelassen
Sollte es möglich seyn daß dein Geheimsekretär liebte? Er müßte allen Gebrauch seiner Vernunft verloren haben und rasend geworden seyn. Weniger Naivetät Schwester! laß ihn leben. Die Grille wird übergehen und dann wird er wieder in deine Fesseln zurükkehren.
Wenn er aber in vollem Ernst liebte? Nun dann ist er ein Türk und Mameluke, denn wie ist es möglich daß – halt ein wenig inne liebe Schwester! verdamme nicht – – – er kann seine Ursachen haben, laß ihn leben, ich bitte für ihn – Du liebst deinen Mann nicht recht oder vielmehr er hat Ursache ein wenig zu zürnen wenn du neben ihn noch einen Galeerensklaven halten möchtest der nicht dein Mann wäre. Du bist meine liebe Schwester aber die reinste heiligste Wahrheit ist mir noch lieber. Ich kann in denselben Fall gerathen und was wird aus mir wenn eine Dame sich meine Schwester zum Muster –
Du bist ein Narr – Ey ey mir den Grandison ins Gesicht zu werfen Nun es ist doch gut daß du es mit guter Laune thatst – Wir wollen also einmal eine Ausname von deiner Immanoyukase machen und einem auf den Tod Gefangenen das Leben – ey pfuj doch, mehr, ich handle itzt – mehr mehr Schwester – pfuj schäme dich – mehr – um das rechte Leben – ich bin zufrieden
Provenienz
Kraków, Biblioteka Jagiellońska, Lenziana 5, Nr. 41.