Straßburg, 10. Mai 1775
Der Brieftext wurde anhand des Originals kritisch geprüft.
Jakob Michael Reinhold Lenz
Friedrich Wilhelm Gotter (Gotha)
LKB
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Strasb. den 10ten May 1775.


Es ist wohl wunderbar daß ich einen Brief vom Jenner erst im May beantworte: aber ich muß Ihnen gestehen Gotter, daß ich Sie im Verdacht hielt, Sie hätten die kritischen Nachrichten im Merkur gemacht und die gefallen mir nicht. Darum schwieg ich. Meine Autorschaft läßt mir gute Ruh und kann mich einen Freund nicht vergessen machen. Das ist kein Vorwurf für Sie mein Lieber, denn Sie hatten mich darum nicht vergessen, obschon Sie mir nicht schrieben und auf die Versprechungen der Freundschaft halte ich so streng nicht, weil ich mich selbst auf den Punkt nichts zuverlässiger kenne. Wir sind in gewissen Augenblicken so seelig, so trunken vom Gefühl unsers Daseins daß wir die ganze Welt mit einem Blick übersehen mit einem Schritt überschreiten da fühlen wir uns eine gewisse Größe unmögliche Dinge in einem ganz leichten Roman zu kombiniren wie meine Reise nach Gotha war.
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Nehmen Sie das Projekt für ein Zeichen meines Vergnügens in Ihrer Gesellschaft an wie ich Ihr Versprechen mir aufs geschwindeste zu schreiben dessen Erfüllung und die Nachrichten von Ihrer fürtrefflichen Schwester mir nun ein unvermutetes Geschenk sind wofür ich sehr danke obwohl etwas spät. Was aber langsam kommt kommt gut und mein Dank ist aufrichtig. Ich habe alle Ihre Aufträge ausgerichtet und von alle den Herrn viel Gegenkomplimente zu versichern. Gerhardi ist Rath worden bei den Prinzen von Hessen die er itzt hofmeistert. Ich hab ihn seit unsrer guten letzten Zusammenkunft nur einmal gesehen und von beyden Seiten sehr zerstreut. Ich gehe
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so meinen Gang fort über Stock und Stein und bekümmere mich eigentlich nur um die Leute deren Herz und Geschmack sich mit meinem berühren kann. So waren Sie mir recht was Sie mir auch übern Menoza schreiben können, den ich selber eine übereilte Comödie zu nennen pflege. Mein Theater ist wie ich Ihnen sage unter freyem Himmel vor der ganzen deutschen Nation, in der mir die untern Stände mit den obern gleich gelten die
pedites
wie die
equites
ehrenwürdig sind. Findt sich niemand in meinen Stücken wieder so bedaure ich Oel und Mühe – ob sie übrigens spielbar sind bekümmert mich nicht, so hoch ich ein spielbares Stück schätze wenn es gut gerathen ist. Sich nächst an die Natur hält und doch Herz und Auge fesselt. Neugier auf einen Grad der Leidenschaft zu treiben weiß und doch durch Befriedigung derselben mich nicht unlustig macht, weil ich sie möglich und wahr finde. Das letzte könnte Thema zu einer Kritik meines Menoza geben und ich danke Hn. Wieland für einige Winke in der seinigen. Wiewohl er hoffe ich bei der nächsten Auflage das zu harte:
„Mischspiel“
zurücknehmen wird. Ich hatte bloß versäumt einige Erzehlungen deutlicher zu machen die
das Ganze
in ein besseres Licht stellen –
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Der Kurländer sitzt schon lang unter seinen Hausgöttern und ist auf dem Wege gestorben und wieder auferstanden. Ich war wirklich auf den Punkt ihn zu begleiten, aber all meine Anstalten wurden zu Wasser. Doch trag ich mich immer noch mit einer Ausschweiffung nach Deutschland.

Warum haben Sie mir denn nichts von Ihnen zukommen lassen? Das Versprechen hätten Sie doch halten sollen. Sie wissen wie es uns armen Poeten geht, die die Bücher lesen wie Vögel unter dem Himmel ein Korn finden. Ich habe noch keins von Ihren Stücken in die Hände bekommen Von der Seilerschen Gesellschaft verseh ich mir sehr viel Gutes Gott weiß wenn ich
exul
wieder einmal deutsches Schauspiel zu sehn bekomme
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Grüßen Sie mir Ihre verehrungswürdige Schwester und den lieben Doktor. Wenn Sie aber nach Lyon schreiben, oder Himmel führe Ihre Hand alsdenn, meiner im besten zu gedenken. Kann ich nicht erfahren wenn sie zurückkommen. Lieber Freund! wären doch alle Oerter in der Welt so nah bey einander als in Shakespears Stücken! Lion, Strasburg, Gotha – ich denk’, ich erwarte Sie alle.
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Was sagen Sie zu all dem Gelärms übern Werther? Ist das erhört einen Roman wie eine Predigt zu beurtheilen. O Deutschland mit deinem Geschmack!
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Provenienz
Kraków, Biblioteka Jagiellońska, Lenziana 5, Nr. 1.