Straßburg, 20. Mai 1775
Der Brieftext wurde sekundär überliefert.
Jakob Michael Reinhold Lenz
Sophie von La Roche (Koblenz-Ehrenbreitstein)
LKB
Straßburg, d. 20. May, 1775.

Sie sind vielleicht schon jezt auf der Reise, deren Sie in dem Briefe an Göthe Erwähnung thaten. Nehmen Sie dahin meinen Dank mit, (wenn anders der Dank eines Menschen wie ich, Sie erwärmen kann,) für den braven Mylord
Allen;
ein Portrait, das ich in meiner Gallerie hoch anstelle. Er hat Erdbeben in meinen Empfindungen gemacht. Lassen Sie sich das neue linke Wort nicht verdrießen; ich rede einmal so, wenn ich mich nicht zwingen mag. Und gegen Sie zwinge ich mich nicht eher, als bis Sie mir dazu winken. Darf man mit Personen, die außer unserm Stande sind, nicht reden, wie’s einem um’s Herz ist, sage ich immer. Wie traurig wäre ihr Loos dann?
Wenn Göthe bey Ihnen ist, so möcht’ ich eine Viertelstunde zuhorchen. Warum lassen Sie ihn denn so viel Operetten machen? Freilich kann mein kaltes Vaterland großen Antheil daran haben, daß ich mehr für das Bildende als Tönende der Dichtkunst bin. Doch kann ich auch weinen bei gewissen Arien die mir ans Herz greifen, und verloren bin ich, (wenigstens in jeder Gesellschaft von gutem Ton,) wenn sie gerad die Stimmung meiner Situation treffen. Wenn Sie denn doch seine Muse seyn wollen, so verführen Sie ihn in ein
großes
Opernhaus, wo er wenigstens
Platz
für seine Talente finden könnte, wenn man es erst von
Metastasios
Spinneweben rein ausgefegt hätte. Nur weiß ich nicht, wie Göthe über’s Herz bringen sollte, Helden anders als im Rezitativ singen zu lassen; oder die Arien müßten von einer Art seyn, wie ich sie mir nicht zu denken im Stande bin. Ich schreibe
Ihnen
das, weil er
mir
ganz stille schweigt.
Was mir wieder einmal eine Zeile von Ihrer Hand seyn würde – das darf ich Ihnen doch nicht erst sagen. Aber nur, wenn es Niemand, Niemand Eintrag thut. Ich will gern hinten an stehen.
Provenienz
Weimar, Goethe- und Schiller-Archiv, GSA 56/I,6,1, Bl. 2r–2v, zg. Abschrift.