Fort Louis, 10. Juni 1772
Der Brieftext wurde sekundär überliefert.
Jakob Michael Reinhold Lenz
Johann Daniel Salzmann (Straßburg)
LKB
Fort-Louis den 10ten Junius.

Guter Sokrates!

Schmerzhaft genug war der erste Verband den Sie auf meine Wunde legten. Mich auszulachen – ich muß mitlachen, und doch fängt meine Wunde dabei nur heftiger an zu bluten. Nur fürchte ich – soll ich Ihnen auch diese Furcht gestehen? Ja da sie mein Herz einmal offen gesehen haben, so soll kein Winkel Ihnen verborgen bleiben. Ich fürchte, es ist zu spät an eine Heilung zu denken. Es ist mir wie Pygmalion gegangen. Ich hatte mir zu einer gewissen Absicht in meiner Phantasie ein Mädchen geschaffen – ich sah mich um und die gütige Natur hatte mir mein Ideal lebendig an die Seite gestellt. Es gieng uns Beiden wie Cäsarn:
Veni, vidi, vici
. Durch unmerkliche Grade wuchs unsere Vertraulichkeit – und jetzt ist sie beschworen und unauflöslich. Aber sie ist fort, wir sind getrennt: und eben da ich diesen Verlust am heftigsten fühle, kommen Briefe aus Straßburg und – Vergeben Sie mir meinen tollen Brief! Mein Verstand hat sich noch nicht wieder eingefunden. Wollte der Himmel, ich hätte nicht nöthig, ihn mit Vetter Orlando im Monde suchen zu lassen. Ich bin um mich zu zerstreuen, die Feiertage über, bei einem reichen und sehr gutmüthigen Amtsschulz in Lichtenau zu Gast gewesen. Ich habe mich an meinem Kummer durch eine ausschweifende Lustigkeit gerächt: aber er kehrt jetzt nur desto heftiger zurück, wie die Dunkelheit der Nacht hinter einem Blitz. – Ich werde nach Straßburg kommen und mich in Ihre Kur begeben. Eins muß ich mir von Ihnen ausbitten: schonen Sie mich nicht, aber – lassen Sie meine Freundin unangetastet. Der Tag nach meinem letzten Briefe an Sie, gieng ich zu ihr: Wir haben den Abend allein in der Laube zugebracht; die bescheidne, englischgütige Schwester unterbrach uns nur selten und das allezeit mit einer so liebenswürdigen Schalkheit – Unser Gespräch waren Sie – ja Sie, und die freundschaftlichen Mädchen haben fast geweint für Verlangen, Sie kennen zu lernen. Und Sie wollten, mit gewaffneter Hand, auf sie losgehen, wie Herkules auf seine Ungeheuer – Nein, Sie müssen sie kennen lernen und ihre Blicke allein werden Sie entwaffnen. Ich habe meiner Friedericke gesagt, ich könnte für Sie nichts geheim halten. Sie zitterte, Sie würden zu wenig Freundschaft für eine Unbekannte haben. Machen Sie diese Furcht nicht wahr, mein guter Sokrates! Uebrigens thun Sie was Ihnen die Weisheit räth. Ich will mich geduldig unterwerfen. Es ist gut, daß Sie meinen freundschaftlichen Ott nicht mit meiner Thorheit umständlich bekannt machen. Ich verbärge mich gern vor mir selbst, nur nicht vor Ihnen. Leben Sie wohl!
Gestern ist der Herr Landpriester bei mir zu Gast gewesen. Er ist ein Fielding’scher Charakter. Jeder Andere würde in seiner Gesellschaft Langweile gefunden haben; ich habe aber mich recht sehr darin amusirt; denn ein Auge, womit ich ihn ansah, war poetisch, das andere verliebt. – – Er läßt sein Leben für mich und ich für seine Tochter.
Provenienz
August Stöber: Der Dichter Lenz und Friederike von Sesenheim. Basel 1842, S. 48–50; aus dem Nachlass von Salzmann; tlw. überliefert auch in: Geliebte Schatten. Bildnisse und Autographen von Klopstock, Wieland, Herder, Lessing, Schiller, Göthe […], hrsg. von Friedrich Götz. Mannheim 1858, S. 151; Auszüge von Leopold Wagners Hand. Stöber spricht davon, dass „einige unvollständige Blättchen bei den Briefen [liegen], welche einzelne philosophische und theologische Betrachtungen, besonders über Leibnitz, enthalten.“ Die Manuskripte der Briefe an Salzmann sind beim Brand der Straßburger Bibliothek 1870 verloren gegangen.