Straßburg, 23. Mai 1776
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Johann Gottfried Röderer
Jakob Michael Reinhold Lenz (Weimar)
LKB
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Liebster Bruder. Was denkst Du über mein Zögern? Es konnte aber alles auch Deinetwegen nicht eher geschehen, und wann ich den Pack von Zürich abwarten wollte so könnt ich so wenig den
diesen
hiesigen
Pack abschicken und der erstere in dem unter andem auch die Siena eingepackt ist, würde auch noch hier seyn vor ongefähr 4 Wochen that ich ihn auf den Wagen. Hastu ihn dann noch nicht erhalten, schreib mirs doch. Den Pack von Zürich soll ich erhalten haben wie Du mir schreibst daß Dir Lavater gesagt hätte, und ich habe keinen Staub davon gesehen. Hat ihn etwa der unstäte Kaufmann mit gekriegt der von Winterthur nach Strasburg abreiste und nach seiner Manier eher noch einmal nach Zürich zurück kommt. Sobald ich den Pack bekomme, soll ich ihn unerbrochen Dir zuschicken, unerbrochen? und soll doch 2 Exemplare an
Mslle König
und 1 an
Mslle Schoell
und so fort abgeben? ich muß Deinen letzten Willen gelten machen, und mich auf Deinen Glauben an meine
religiöse
Verschwiegenheit verlassen.
Theuerster Bruder ich schwöre Dir bey dem einzigen Gran von gutem Herzen den Du bey mir vermuthest daß ich nicht spasse mit dem ersten April O Lenz wie kannstu das von mir glauben? Warlich warlich mit all Deiner großen Menschenkenntnis Du kennst mich kaum halb wann Du so was wähnen kannst, aber ach theure liebe Seele wer kann Dir auch das zumuthen zu glauben, laß mich mit Dir weinen mit Dir – ach – verstummen. Kennstu beyliegende Silhouette wovon an Lavater auch eines abgeschickt wurde,
und
ich hab den Schattenriß selbst genommen und ihn ins kleine gebracht, und mich aufs sorgfältigste dabey bemüht. – wie gesagt es war am ersten April in der neuen Kirche mittags um 12 Uhr.
Die gnädige Frau hat wirklich das bewußte Portrait selbst gemalt aber Sie sagt es sey nach Potsdam und nicht nach Weymar geschickt worden. Diese Woche wird sie nach Bußweiler abreisen mit dem gnädigen Herrn und von da auf ihre Güther und so den ganzen Sommer über nicht zu Strasburg seyn.
Lenz Lenz von der Vocation ins Philanthropin sag ich kein Wort, aber warum nimmst Du die zu Weimar nicht an? Warum? gieb Acht wo die Ursache her kommt und wo sie hin führt. Lenz mein theuerster, Liebster sey Lenz und vergieb meiner Liebe zu Dir, ich sage kein Wort mehr hievon, bin kein Redner für Dich. – Freilich sollst Du wieder einmal herkommen und ohn den Gedanken wäre mir Deine Entfernung sehr hart, aber fixiren kannstu Dich hier wohl schwerlich.
Viel politische Neuigkeiten kann ich Dir wirklich noch keine von hier melden. Von Krieg wird nicht gesprochen, der Hof ist noch immer zu viel mit sich selbst beschäftigt und scheint alle auswärtigen Angelegenheiten von sich ablehnen zu wollen.
Mr. Turgot
hat seine Dimission bekommen, vermuthlich daß er sich durch verschiedene Edicte viel Hasser gemacht denen seine ökonomischen Projekte (die an den meisten Orten bis zur Ausführung reif waren) – für ihre besondere Ökonomie nicht anständig waren. Der König selbst soll, wie man mich zuverlässig versichert hat, sein letztes
Lit de justice
bereuen.
Beym Franzosen bin ich gewesen und hab die Interessen mit 24 Sous besorgt, so bald es sein kann will ich der Relation ein Ende machen, seh aber noch nicht wann.
Tabelle

Unsere Besatzung. 1 Regiment schwere
Kavalerie
von 350 Mann.

1
Dragoner
350.

1 Regiment Schweitzer-Salis
1032.

Elsaß
1032.

Anhalt
1032.

Quercy
1000.

Lyonnais in der Zitadelle
1000.



Das Artillerie-Corps nicht mitgerechnet
#
5796.

5796 Verte

am linken Rand der ersten Seite vertikal Kalkulationen von Lenz’ Hand


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Zu Flies werd ich nächstens gehen. Worinn besteht das Schletweinische Ursystem? ists theologisch? – hier wird nichts Neues von der Art eingeführt, den Theologen hier ist die Ruhe lieb und zu dem verstehn sie das alte System noch lange nicht genug, ich denke sie würdens alsdann noch eifriger beibehalten wann sies nach seiner ganzen Spinnigkeit kennten. – ist’s politisch? bestehts in neuen Exercitien? so kann ich Dir sagen daß die Sache nicht interessant seyn kann, denn es wird bald wieder ein Ende haben, sobald eines erlernt ist kommt immer wieder ein neues auf. – ist’s ökonomisch? bestehts in der Vertheilung der Almenplätze und in der Bearbeitung derselben zum Ackerbau, so kann ich Dir sagen daß man hier fast alletage fortfährt dieselben zu versteigern. Unser Magistrat hatte bei jedem Viertel Frucht das in die Stadt kam ein gewisses Stück Geld abzufordern das jährlich ein Einkommen von 40–50000 Gulden ausmachte und da nun dies auf Königsbefehl wegfällt, so suchen sie sich durch Versteigerung der almen Plätze Ersatz. Wie sich alles das bey der Veränderung des Herrn
Turgot
entwickeln werde? – mag Zeit lehren.
Das Geld für die Brief Porto bey Schönfeld ist 6 l. Er grüßt Dich. Türkheim, Blessig grüssen Dich und von allen Orten her habe ich Grüsse an Dich. Das Monument ist zum Theil schon angekommen, die Pyramide steht schon aufgerichtet in einer Mauer
á vue perdue
beydes in schwarzem Marmor, die Statuen aber werden noch erwartet. Unsere Esel von Dumherrn machen immer Difficultäten, sonst wäre Pikal schon längst hier und eher werden die Statuen nicht kommen. Der Graf von Artois soll freilich auch herkommen aber bey gegenwärtiger Hofunruhe solls noch ungewiß seyn.
Das 2te und 1te Stockwerk des Lauthischen Hauses hat Freunde wahre Freunde von Dir die Dich grüßen, im 2ten hören sie das Ablehnen Deiner Vokation zu W nicht gern, im ersten wissen sie nichts davon und sind ruhig. Sie grüßen Dich beyde recht herzlich.
Laß Dich erbitten mir Verzeichnisse von Deinen und Herrn D.Göthens neuen Stücken zu schicken. Claudine? Von wo muß man’s kommen lassen? Dein Engländer? Was ist das? wer verlegts? Ist
Dr.
Faust fertig gedruckt?
Wegen den Bauren auf dem Land muß ich erst noch nachfragen. Den Guibert hab ich empfangen, ich glaubte er sey im Getümmel von Schlachten herum getragen worden – doch habe ich ihn dermaßen zurecht legen· und ausheilen lassen daß man ihm nicht einmal die Wunde ansah die er vom Leser bekam und der Hr. Pr. Koch machte gar ein freundliches Gesicht als er ihn sah und Deinen Brief bekam und läßt Dir ein höflich Compliment sagen.
Die Veränderung die man mit den Regimentern vornehmen wird. Jedes wird aus zwey Bataillons bestehen. Das erste Bataillon kriegt 5 Compagnien. Jede zu 160 Mann gerechnet, davon eine Compagnie aus Grenadirs besteht, die 4 andern aus Gemeinen. Das zweite Bat. hat statt Grenad. eine Comp. Jäger. Dann kommt noch eine
Compagnie auxiliaire
zu jedem Regiment, diese eilfte besteht aus
Recrues
die unter dem Kommando von 6 Officiers exerciert werden und allemal die abgehenden Leute ersetzen. Aus Ursach dessen ist auch die Land Milize abgeschafft worden. Jede Compagnie hat 2 Capitaine und 4 Officiere. Auch wird der jährliche Sold der Officiere vermehrt so daß statt 500 l. die ein gemeiner Officier jährlich bekam er 700 bekömmt. Jedes Regiment wird also um 600 Mann ungefähr verstärkt, dann 160 Mann in der Comp. X 11 = 1760 Mann und itzt hat ein Regiment ongefähr 1000 bis 1200 Mann.
Ich bin beym H v Flies gewesen traf ihn nicht an, morgen. Hr v. Kleist sagt Dir ein Kompliment ich komm itzt. täglich zu ihm. Zimmermann grüßt Dich, dankt Dir herzlich für den Brief, bittet um Frist zu antworten, hatte das Fieber und eine
recidive
. liegt noch! und ich kann ihn kaum besuchen. – Alle Schweizer grüßen Dich auch. Hafner grüßt Dich auch, predigt itzt zuweilen, aber nur französisch, sehr fließend über MoraJen
sur la charité, sur la médisance
Völlig im französischen Geist. Man hört ihm seine Lektür und die Wendung die
polie
die sie seinem Geist gab an. Was willstu für Akten?
Die Iris wie Du itzt wissen mußt hat Hr Spener zu Berlin in Verlag genommen und sein Comissionair in Strasburg ist Bauer & Treitel. Kann also nichts mit machen, nicht Dir zeigen daß Du nicht schreiben sollst
„was du draus hebst nimmst du zu erst für dich, denn
etc“ Lenz laß mich machen so lang ich machen kann

am linken Rand der zweiten Seite vertikal Kalkulationen von Lenz’ Hand


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Wohl bekomm Dir Dein
Bucephalus!
Bücher schick ich Dir keine, der Porto kommt Dich höher als sie werth sind. Shakespear und mein Homer sind hier geblieben, ich hab dem Hr. Schlosser geschrieben daß er sie haben kann, ich warte auf Antwort. Er ist aber zu Anfang des Monds nach Helvetien gereist. Die Frau Hofräthin ist allein, vielleicht komm ich hin ich werd ohn das in die Gegend kommen. Wenn’s möglich ist so abonire mich für den Merkur auf dies Jahr. Hier ist alles voll Sehnsucht.
Hastu Lenz die Verse gelesen die Lavater der Frau von Oberkirch auf ihre Copulation geschickt hat ohne Unterschrift des Namens, die sind herrlich ich will suchen eine Copie davon zu kriegen. Sie sagte sie könnten nicht an sie adresirt seyn.
Hastu mit dem Pack von hier nicht auch meine ersten demosthenischen Bögen erhalten, mache damit wie Du vor gut findest nur sage mir was draus wird, findets An und Aufnahme im Merkur oder Musäum so fahr ich fort. Mit der Zeit etwa eine Parallel zwischen Demosthenes und Isokrates, und von da eine Provinzialschrift für Prediger wo ich viel auf dem Herzen habe das alles kann aber nicht miteinander ziehen, man mögte das letzte sonst gar nicht fassen oder tragen können.
Liebster Bruder noch Nachrichten die ich Dir sagen will von der gnädigen Frau. Gleich nach der Hochzeit wurde sie auf ein paar Tage krank und bekam die Rötheln. Sie giengen drauf mit dem Herrn (der stark in den 40 ist, nicht besonders kultivirt, ihren großen Werth kaum ahnden kann, keine Lektur goutirt, sehr eigennützig seyn soll – wie er dann dieß vom alten Herrn Vater geerbt hat – doch soll er Ihr sehr attachirt seyn und schon bei 7 Jahren wie man sagt immer Reflection auf sie gemacht haben – sie ist von den reichsten adelichen Familien) nach ihren Güthern, von da kamen sie wieder in die Stadt, blieben einige Wochen bis diese hier, wo ich sie alle Sonntage in der Neuen Kirche sah und mich an ihrer Devotion erbaute. Vor ein paar Tagen empfieng ich von Mslle König der ich gesagt hatte daß ich mit Silhouetten umgehen könnte ein Billett, wo sie mich ersucht Lavatern und Dir zu Gefallen das Profil von einer Freundin zu nehmen welche beyder Verdienste sehr hoch schätzte, ich kam den Tag drauf auf bestimmte Zeit hin ’s war Sonnabend nach der Auffahrtsfeier zwischen 9 u. 10 Uhr morgens, Sie führte mich zur Gnädigen Frau die mich als Deinen Freund sehr gnädig aufnahm und in einem Zimmer wo man alle einbrechenden Schimmer des Tags verstecken konnte machte ich den Schattenriß. Der Herr war um die Zeit an dem Rathauß dann er soll nichts davon wissen.
Ich habe seit Deiner Abreise einige mal gepredigt und am letzten Himmelfahrtfest vor einer großen Versammlung, es gieng mir Gott sey Dank allemal gut, ich hatte nie die geringste Schüchternheit, u. schämte mich daß mir jemals für der Sache bang war, auch ist mir mein Gedächtnis getreu und nirgends habe ich mehr Lebhaftigkeit und Entgegenwallung des Herzens als auf der Kantzel. Das letzte macht mich oft mit allem Vorsatz extemporiren und dann komm ich immer mit
présence d’esprit
wieder aufs Conzept zurück. Ich glaub itzt mehr als jemals daß die Kanzeln nicht umsonst gebaut wurden und sie wichtige Bestimmung für den sind der sie würdig betritt, ich hoffe mit der Zeit unter die gezählt zu werden. Lebe wohl lieber Bruder! Gott tröste Dich! sey mit ihm Lenz wie er gewiß mit Dir ist mein lieber leidender Heiliger. Vergibe mir wann ich was sagte das in diesem Brief Dir widrigen Eindruck machen sollte entweder weils Misverstand wäre oder ich Deine
Delicatesse
nicht genug geschont haben sollte, ich schrieb in großer Unordnung, wie ich eine Seite Deiner lieben Briefe nach der andern wie sie mir vorfielen beantwortete. Vergieb das lange Zaudern und Zögern, wann ich Dich nicht kennte so würde ich glauben, daß deswegen ein fulminanter Brief auf dem Weg sey, aber liebe mich und glaube daß ich nicht sowohl Deine Freundschaft zu verdienen mit bestem Vermögen strebe als vielmehr meiner eigenen Liebe zu Dir Satisfaction zu geben bemüht bin Dein alter Röderer.
Strasb. d. 23 May 1776.

Den Pack den ich Dir senden werde wird erst über 8 Tage von hier abgehen können, es mag alsdann das Paket aus der Schweitz da seyn oder nicht.
Meine Hochachtung an H
Dr.
Göthe und wann Du mich nennen magst an Herrn Hofr: Wieland.

Jakob Michael Reinhold Lenz

Quisqui ubique habitat
Maxime nusquam habitat


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am linken Rand der vierten Seite vertikal
left
Jakob Michael Reinhold Lenz
schändliche kalte Tugend die uns zwingt Aufopferungen gegen einen Freund zu machen den wir hernach dafür nicht lieben könnten. Schicksal des Guten Einer der alles hingiebt zuletzt das Leben und nichts thut weil er nicht das Herz hat eines
 
☓ stumm der Weg zum
Vater.
Jakob Michael Reinhold Lenz

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hat sie mich davon vorher warnen lassen
durch ihn
und ich suchte das nicht zu hindern
nur wenn alles gethan ist den letzten Genuß um ihr sagen daß ich sie erwarte


An Herrn
Lentz

bey Herrn
Doctor Goethe

zu Weimar.


Jakob Michael Reinhold Lenz
Gusne
Joka
J

Sobald
meinen Platz ein anderer
ausfüllen kann, warum ihn nicht verlassen?
Sobald also dies gethan ist – geh ich. Es ist Gott der mich ruft.
Im Frieden ist auch im Mil. nichts zu thun für mich.

1 Schnuptuch
2 Hemden
3 p. Strümpfe
3 Binden

zwei Profilskizzen
Jakob Michael Reinhold Lenz
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am linken Rand der vierten Seite vertikal
left
Jakob Michael Reinhold Lenz
Jakob Michael Reinhold Lenz
Jakob Michael Reinhold Lenz
Provenienz
Riga, Latvijas Akadēmiskā Bibliotekā, Ms. 1113, F. 25, V. 32, Nr. 43 (erstes Blatt) u. Ms. 1113, F. 25, V. 32, Nr. 42 (zweites Blatt).