Wahrscheinlich auf der Reise nach Emmendingen, Anfang Dezember 1776
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Jakob Michael Reinhold Lenz
Johann Caspar Lavater (Zürich)
LKB
Lavater! mein Herz zerspringt mir wenn ich mir einbilde, daß meine Weigerung zu Dir zu kommen, von Dir mißverstanden werden könnte. Wenn auch die heiligste Zerstreuung nicht immer Zerstreuung wäre, so bald man auf ein Ziel zugeht; so kannst Du Dir vorstellen wo mich mein Herz wohl zuerst hinführen würde, wenn es allein zu wählen hätte. Keine Alpen und kein Eis sollten mich schröcken an Deinen Busen zu fallen Gottesmann und ein Grönland zwischen uns würde aufhören kalt zu seyn, sobald ichs zu Fuß in der Hofnung durchliefe am Ende der Wallfahrth Dich zu finden. Ich wünschte Du schriebst keine Physiognomick, Du wärest ein unbekannter vergeßner vereinzelter Mann und ich dürfte mit einer ganzen Welt durch Wüsten zu Dir eilen und ausrufen Hier! –
So aber legt meine Einzelheit kein Gewicht in Deine Schaale und unser stilles Vergnügen, so geschmückt es brautgleich mir entgegentritt ist noch zu rein für ein Auge das – Dich wie Du bist – jetzt nicht ertragen, jetzt entheiligen würde. Für ein Auge das Gegenstände sich ganz zugeeignet haben, die von Dir und Deinem Wirkungskreise so verschieden als der Himmel von der Erde sind. Lebe wohl und zürne nicht – und liebe mich dennoch – und laß Deinen Seegen mich verfolgen. Aus dem nächsten Ort wo ich
stehe
schreib ich Dir und harre auf Deine Antwort Lavater! wie ein Liebhaber! nicht wie der herumirrende
Lenz
Provenienz
Zürich, Zentralbibliothek, RP 20, Nr. 8.