Wahrscheinlich auf der Reise nach Livland, Sommer 1779
Der Brieftext wurde sekundär überliefert.
Jakob Michael Reinhold Lenz
Christina Margaretha Lenz (Dorpat [Tartu])
LKB
Meine theureste und Verehrungswürdigste Frau Mutter!


Mit frohem Herzen, und mit innigem Dank gegen Gott gebe ich Ihnen zum ersten mahl diesen süßen Nahmen, den ich bis hierzu nie ohne Wehmut aussprechen konte. Doch Gott hat unser Gebeth erhöret, und uns in Ihnen wieder eine Mutter geschenkt, die schon lange gegen unsere ganze Famielie mütterliche Beweise Ihrer Liebe und Zärtlichkeit gegeben hat. Wie glücklich schätzen wir unsern theuren Vater, in dem Herbst seines Lebens, eine so treue mit seinem Herzen, und häuslichen Umständen schon bekannte, und durch so viele Proben schon bewährte Gefährtin gefunden zu haben, die die trüben Tage seines Alters aufheitern, seine schwächliche Gesundheit pflegen, und die Lasten des Lebens so liebreich mit ihm gemeinschaftlich tragen wird. Wie zärtlich werden Ihnen Kinder und Enkel danken, denen Sie einen so geliebten, einen so vortreflichen, so theuren Vater da durch noch manches Jahr erhalten, daß Sie Ihre Hand in die seinige legen, und er sein müdes silber weißes Haupt an Ihrer treuen Brust ausruhen kann.

Ja, theures Paar! das schon auf manchen Dornen Wegen
In dieser Pilger-Welt, mit Müh gewandelt hat
Genieße nun im Herbst den ganzen Erndte-Segen
Von jeder Prüfungs-Zeit, von jeder Trähnen-Saat.
Zwar lacht nicht mehr der Herbst, so wie ein Frühlings-Morgen
Der alles übersonnt, und Feld, und Fluhr verjüngt
Nie schläft ein Silber-Haupt, so frey von allen Sorgen
Wie noch der Jüngling schläft, dem alles Freude bringt;
Dafür ist auch der Greis schon viele Schritt weiter,
Schon manchen Berg – den noch der Jüngling steigen muß. –
Auch ein November-Tag ist dankenswehrt, wenn heiter,
Der Sonne Strahl ihn grüßt. – Dank auch dem kurzen Gruß! –
So grüßet jetzt auch Euch nach manchen trüben Tagen
Ein sonnigt froher Tag, der Freude bringend lacht.
Und gleich der Nacht, entfliehn, vor ihm jetzt Schmerz und Klagen
Und Freuden werden Euch glückwünschend dargebracht. –
Dort rief einst Gott! – dein Knecht, o Sonne stehe stille,
Und auf dein Allmachts-Wort mußt sie nicht untergehn.
Sieh Kinder, Enkel, hier dir flehn: Ists Herr dein Wille,
So laß dem theuren Paar, der Freuden Sonne stille stehn. –
Sanft fließ er Ihnen fort, der Herbst des theuren Lebens
Das dir geheiligt war. – Der Rest sey Sonnen-Schein,
Und heiter jeder Tag, – uns Muster des Bestrebens
Auch einst in unserm Herbst so from und froh zu seyn. –
Provenienz
Kraków, Biblioteka Jagiellońska, Krakau, Lenziana 5, Nr. 34 (Abschrift).