St. Petersburg, 27. März 1780
Der Brieftext wurde sekundär überliefert.
Jakob Michael Reinhold Lenz
Christian Brion (Straßburg)
LKB
St. Petersb. d. 27sten Merz

Mein schätzbarster Freund! Ich weiß diesen Brief nicht besser an Ihre Demoiselle Schwester gelangen zu lassen, als durch Ihre Hand und bediene mich der Gelegenheit, so vielleicht die ersten und besten Nachrichten von Ihrem allerseitigen Wohlbefinden zu erhalten. Ich hatte vor meiner Abreise ein Abschieds- und Danksagungsschreiben an Ihre Mad. Schwester und zugleich an Ihr ganzes verehrungswürdiges Haus aufgesetzt, da ich aber eben aus einer schweren Leibes- und Gemüthskrankheit, von der Sie vielleicht gehört haben, genesen war, so mußte ich aus den Folgen schließen, daß Sie dasselbe nicht erhalten. Das ist die Ursache, warum ich eine mir so angenehme Schuld itzt nachhole. Ich habe viel ausgestanden in der Krankheit und auf der Reise, mein Körper und meine Munterkeit haben dadurch gelitten, das einzige was mir geblieben ist die Erinnerung und das Gefühl für alle Freundschaft und Güte, die mir bey meiner Entfernung vom Vaterlande wiederfahren. Ich wünschte nicht, daß Sie in ähnliche Situationen geriethen; so sehr ich von Herzen wünschte, Ihnen worin dienen zu können. Ich erinnere mich von Ihrem Herrn Vater gehört zu haben, daß Sie eine der deutschen Universitäten besuchen wollten. Sagen Sie mir welche es seyn wird; vielleicht hab ich dort einige Bekanntschaft. Sollte Sie aber einmal mehr als Neugier, sollten merkliche Aussichten Sie in unsere Gegenden herüberführen, so seyn Sie versichert, daß ich alles anwenden werde, was in meinem Vörmögen ist, Sie meiner unveränderlichen Hochachtung und Erkenntlichkeit für Ihre ganze würdige Familie zu überführen. Wahr ist es daß der Schwürigkeiten befördert zu werden, hier mehr sind als anderwärts, Schwürigkeiten die ich als Einheimischer bis zur Aufgebung aller Hofnung erfahre und die einem Fremden doppelt auffallen müssen. Eine Menge Leute von Talenten, die von allen Orten her hier zusammenfliessen und durch Connexionen und Cabale jedem Unerfahrnem den Weg verbauen, ein hartes Klima, eine höchst theure Lebensart, fremde Sprache und Sitten und eine Art von Zusammenverschwörung gegen den, der die beyden letztern nicht kennt – tausend Ungemächlichkeiten, die mich die eine Reise zu Land und Wasser von einigen 700 Stunden bald vergessen machten. Alsdann der Pöbel und das Gesinde in einer grossen Stadt, der zu tausend Ausschweifungen vertritt, und der Arbeit ungewohnt, wegen Diebereien und oft den grausamsten Verbrechen, eine Art von Feind ist gegen den man beständig zu Felde liegt – kurz alles alles lieber Freund was sich besser denken als sagen läßt, machen die Versorgung hier unaussprechlich schwerer als anderwärts, so wie vielleicht kein Ort ist wo man so leicht und so glänzende Hofnungen gibt, die das Unheil nur grösser machen. Nein mein Freund! wahres Verdienst, Tugend und Wissenschaft müssen besondere Wege finden sich geltend zu machen an einem Ort, wo jeder durch die seltsamsten Schicksale hergeworfene und verschmitzt gewordene Fremde sich das Ansehen von Verdienst und Tugend zu geben weiß – kurzum, wo man Gott dankt, daß man Othem holt. – Es ist wahr daß die höchste Monarchin und verschiedene Grosse hier einen unbestechlichen Sinn für wahren Werth haben – aber der Weg zu ihnen wird einen bis von den geringsten Personen auf eine solche Art verrammelt, daß eine Lebenszeit daraufgeht, eh Glück oder Zufall ihn eröfnen. Dies muß ich Ihnen schreiben, weil eine gewisse Meynung die auswärts noch von vorigen Zeiten herrscht, als Verdienste seltner waren, einen Fremden leicht verführen kann, sich die Sachen bey weitem anders vorzustellen, als sie sind; eine Meynung, die tausend Unheil anrichten kann. Ich bin noch nicht befördert und weiß noch nicht ob Petersburg oder Schweden mir nur den nothdürftigsten Unterhalt geben wird, den man oft mit den glänzendsten Namen bezeichnet
Empfehlen Sie mich Ihren
Mlls.
Cousinen und sagen Ihnen, daß ich keinen von Ihren und meinen Freunden in Curland gesprochen, da meine Reise zu Wasser gieng. Von denen Herrn v. Kleist habe gehört, daß sie sich in Curland verheurathet: von Herrn v. Medern weiß ich nichts zu sagen. In Kurland wenn man Bekannte unter dem Adel hat, giebts noch eher Aussichten als hier, wo die ganze Welt möcht ich sagen sich zusammendrängt. Doch werden Sie selbst leicht errathen, warum ich meine Verbindungen dort mit Fleiß abgebrochen, da sie von keiner Dauer seyn konnten. Für einen Fremden, besonders für einen Juristen könnten sie es eher seyn, auch für Theologen, die die Landessprache lernen. – Haben Sie mir keine Nachricht von Herrn Ott zu geben? Der Minister bey dem er
engagirt
war ist jetzt in Moskau. Empfehlen Sie mich Dero sämtlichen Angehörigen und lieben unaufhörlich
Ihren ergebensten Freund
JMR. Lenz.


Dem Herrn Cousin, Herrn Amtmann Schöll meine verbindlichste Empfehlung
Provenienz
FSt II 149–151 (Der Brief erreicht Christian Brion nicht).