Moskau, wahrscheinlich Mitte 1789 [ab Mai]
Der Brieftext wurde anhand des Originals kritisch geprüft.
Jakob Michael Reinhold Lenz
Johann Christian Lenz (Riga)
LKB
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Aus
Moskwa
den ??


Geliebter Bruder!



Lebt unser Vater noch? Ist er gesund munter? Denkt er noch an den 10ten Julius und liest er bisweilen in den Büchern Mosis vom zehnten Tage des siebenten Monden?
Siehe lieber Bruder! den Menschen der unter allen die mißverstanden worden, am meisten mißverstanden wird und den die Hand Gottes noch erhält – ihm Freunde und Beschützer zuwendet und in keiner Noth gänzlich untergehen ließ.
Ich höre vom jungen Herrn Reimmann daß Hartknochs Sohn den Handel seines Herrn Vaters fortsetzt. Wenn du ihn siehst, erzeige mir die Liebe und frage ihn, was unsere Schweizerfreunde machen – und wofür sie mich etwa wohl itzt halten? Ist Herr Füeßli sein Reisegesellschafter, den ich in Petcrsburg kennen lernte auch wiedergekommen? Ach wie werden einem doch so flüchtige Augenblike des Genusses als ich in der Schweitz beym Anschauen der Physischen und Moralischen bessern Natur hatte, offt wieder durch so viele Proben verbittert! Wie empfindlich ist es, von ausschweiffender oder verschrobener Phantasey solcher Personen zu leiden, die sich selbst den Genuß einer Seele frey von unruhigen Leidenschaften, die zum Schaden des Nächsten abzweken, auf dieser Unterwelt niemals zu gönnen scheinen. Von Personen die durch ihre Talente desto mehr Schaden anrichten, je mehr sie sich stellen uns nicht zu verstehen, um durch üble Auslegungen von Worten und Handlungen ausser allem Zusammenhang, unsägliche Schmerzen aufzulegen.
Man sprach einige Zeitlang von neuen Universitäten in der Gegend um Pieskau und hier gegen den Dnepr in Zemigow, wo ein Erzbischoff und eine Drukerey ist, in welcher verschiedene Schriften der Geistlichen in Russischer Sprache herauskommen.
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Wenn Herr von Karamsin durchgeht, so erzeige mir die Freundschaft, mein Trauter! ihm wo möglich den Aufenthalt recht angenehm zu machen. Er liebt die deutsche Sprache vorzüglich, spricht und schreibt sie wie ein geborner Deutscher und könnte mit Hülfe des Herrn Bakmeister in Peterburg, da er itzt viel Bekanntschaft mit ausländischen Gelehrten gemacht, manchen guten Rath in Ansehung benachbarter Universitäten geben. Was macht der unglüklich ausgelegte noch viel mehr als ich mißverstandne Goethe und seine Autorschaft? Hört man nichts von ihm?

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Allein der Bibelabdruk, der in Ostrogoschk wo Augsspurgische Colanisten sind herausgekommen ist sehr alt und den meisten unverständlich. Es möchten sich im hiesigen Gouvernement Maaßregeln zu einem neuem finden, dem auch eine neue deutsche Uebersetzung mit Auslassung vieler Zweideutigkeiten der
alten Sprache,
bey gefügt werden könnte, z. B. des öftern,
er bethete ihn an,
wenn von Menschen gegen Menschen die Rede ist. Und Ehr. 7,10 die fürtreflichste und heiligste Stelle der ganzen Bibel, die ein wenig allzu unehrerbietig herauskommt. Zu geschweigen der poetischen Schönheiten in Psalmen und Propheten – wobey dennoch die alte Uebersetzung soviel möglich beyzubehalten wäre. Man hat hier einige Lateinische, wie mich deucht von vielem Werth.
Lieber Bruder! kennest du nicht in Liefland oder vielmehr Riga einen
Druschinin
für die Russischen Angelegenheiten und sollte sich nicht daselbst eine
Cirkulationsbank für den einheimischen Handel
etwa gegen Polozk zu eröfnen lassen, von welchem Projekt dir vielleicht gar ein gedruktes Blatt zuzusenden hoffe, an dem ich selbst gearbeitet, daß einsichtsvollere Patrioten dasselbe verbessern können.
Die Hauptursache ist der schwürige
Transport in und von den Seehäfen,
die weit bequemere Eröfnung der sich überall berührenden Flüsse Rußlands und der die vielen vennittelnden kleinern
Städte und Jahrmärkte
und reisenden
Russischen Kaufleute
wegen weit bequemere
Wechsel von Waare gegen Waare durch an diesen Orten bestellten Commissionärs
oder
kleine Consuls.
Die Ausländer selbst würden an einen solchen vermittelnden Ort z. B. einer Rigischen Cirkulationsbank, in deren Nachbarschaft die einheimischen Produkte aufgeschüttet würden, mit welchen die Crone grosse Geschäfte machte und das Geld in kleinen Summen gegen Sicherheit an Russische Mäkler ausliehe sehr viele Bestellungen machen und von denen südlichen Provinzen am Dnepr gegen Zemigoff zu, ihrerseits wieder erhalten.
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Wir haben sieben Cirkulationsbanken, ausser den 2. in Moskau und Petersburg. 1. Jaroslaff 2. Smolensk 3. Welikiustjoug 4. Astrachan 5. Nischnowgrod 6. Wischneiwolotschk 7. Tobolsk – zwischen welchen nach Ditheys Wechselrecht Beständige Correspondenz und Uebermachung von Geldsummen ist, so daß, wer z. B. rohe Seide, Thee, Pelzwerk, Gewürz u. s. f. aufzukauffen an einem entfernten Ort begehrte, an dem nächsten das Geld dafür deponirt und die Waare durch Kaufleute auf den Jahrmärkten erhält. Umgekehrt kann ers mit Bestellungen z. B. aus Kleinrußland, Belgrood, Orel, durch rükreisende Kaufleute mit Waaren aus den Seehäfen eben so machen

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Dieses geht hauptsächlich denjenigen Adel an, der eigene Manufakturen anlegt, von denen einige kenne, zu welchen er die ersten Materialien hier aus der nächsten Hand erhält.
Noch eine Freundschaft bitte mir zu erzeigen und mir zu berichten, welches itzt die weltlichen Mitglieder des Rigischen Oberconsistorium sind und ob noch Mitglieder aus dem Hofgericht dazu gezogen werden.
Ich habe weder von dem Bruder aus Derpt, noch dem lieben französischen Bruder Moritz – so wenig als von unserm jüngsten Bruder aus Reval die mindesten Nachrichten, seitdem Freund
Hüne,
der wo ich nicht irre Verwandte in Reval hat, aus unserer Stadt verschwunden ist. Wenn sie sich nur alle wohl befinden, wenn sie nur alle meine Thorheiten vergessen können, über welche die ganze Correspondenz unsers lieben theuren Vaters
und Bruders
durch Feuer verloren. O möchte doch in ganz Rußland alle alten Sauerteigserinnerungen ausgefegt und vergessen werden! – –
Ist nicht Herr Huthoff durch Riga gereist und hat etwa bey dir eingesprochen? Er soll wie man mir gesagt, in Hannover seyn und wollte Briefe und Aufträge von mir mitnehmen, welche Gelegenheit aber entwischte. Ich hätte gern die ersten fünf Gesänge der Russiade (des alten Israelitenkriegs gegen Götzendiener längst durch Sündfluthen verwischter Generationen) ihm anvertraut, die vielleicht Herr Boje in das Museum gerükt haben würde, um doch das deutsche Publikum mit dem Genius der Russischen Epopée auch bekannt zu machen. So aber flog er davon und ich kann nicht einmal zu meinem Manuscript kommen, denn es scheint es kann hier in Moskau schwerlich abgedrukt werden, ohngeachtet das Russische Exemplar in jedermanns Händen ist, das für deutsche Leser einige Erklärung bedurfte. Da die Urussen ehemals selbst eine Tatarische Völkerschaft waren, so wäre es Wahnsinn und Aberwitz, da die vornehmsten Geschlechter in Rußland aus diesem Stamme sind, ein Gedicht dieser Art mit unsinnigen witzelnden Anwendungen und Anspielungen zu lesen.
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es gehen wo ich nicht irre schon itzt nach Dünaburg Rigische Wittinere mit Geträide für Peterburg und Moskau

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Man studiert überhaupt in Liefland zu wenig Russische Geschichte. Es würde dieses hunderttausend Schwürigkeiten und Steine des Anstosses heben, die durch verwirrenden und verfinsternden Wahn der Leidenschaften und des Mißverstandes gemacht werden. Auch kommen zu wenig Russische Bücher ins Land, z. B. Lebensgeschichte alter Russischen Geistlichen mit ihren Gesichtern und altfränkischer Kleidung, die in heutigen Zeiten nichts anstössiges haben sollte. Erfährst du lieber Bruder etwas vom verdienstvollen Herrn Topografen Hupel, so erkundige dich doch nach seinem Aesthiisch Phrygischen Wörterbuch. Ich habe einen Aufsatz liegen über die alte Emblematische Sprache des alten Phrygischen Götzendienstes der durch ganz Europa verbreiteten Gallen oder Priester der Cybele, wie auch der Vreesen, Frisen, (Phrygier) in Holland, der Esthier (
Aesthii
des Tazitus) und
Litthuanier
oder Lateiner die an der
Küste
wohnten, worinn ich die Verwandschaft aller Sprachen in Rußland vermuthe und aus einigen Proben dazuthun mich getraute. Z. B. alle Benennungen des Teufels oder bösen
principii
von zaubern,
чермъ
,
чаровмъ
,
Διάβολος
von
διαβαλλω
ich zaubre, verleumde,
oatav,
von
εαζο
ich unterjoche, bezaubere
kurrad
von
иокорямъ
,
κορονιαο
im Griechischen und Russischen ich bestreite unterjoche u. s. f. im gleichen die Benennung Gottes von
Hut, Gut
durch die Kehle gesprochen,
hoja
ich hüete,
choronit
im Slawischen das verwandelte
Hort
der alten deutschen,
tueor
im Lateinischen wovon
Deus
und das Litthuanische (
littus
) Wort
deaws
kommt: denn die Priester des Bachus
Sabeer, Sabier
in Italien und Latien und am Schwarzen oder Sabachischen Meer und die Gallen oder Priester der Vesta und Cybele hatten beständige Kriege gegeneinander.
Wir hoffen auf eine Akademie der Sprachen und auf eine allgemeine Bibelübersetzung mit stehenden Pressen, zu welchen hier eine alte Gloke gebraucht werden könnte. Diese wird die Ueberreste der alten Emblematischen Phrygischen und alle ihre schändlichen ehmaligen Mysterien bald ausfegen, wozu das Feigenblatt Anlaß gab das
фрцскосъ
hieß und im neuen Bunde verflucht ward.
Doch ich plaudere zu viel und vergesse dich deine liebe Gemalinn und alle die deinigen und unsrigen tausendmal in Gedanken zu seegnen Lieber Bruder! ich leide – und darf nicht heraussagen, von welcher Seite her. Auch im äusserlichen drükt mich Mangel. Lebe wohl.
Dein Freund

JMRLenz
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Was macht Herr Rektor Hehn unser ehmalige Freund und seine liebe Gemalinn? Was macht unser lieber Sczibalsky? Melde mir doch einige Neuigkeiten, Verheurathungen u. s. f. wenn es Personen sind die ich kenne. Ich erinnere mich noch immer der Messe in Derpt und der Bärenhetze, wo die jungen Herrn hernach riefen: Aber wo werden wir essen? – Singt man in Liefland noch
Kasike Kanike
. Siehst du daß wir alle Tartarn sind? – Es giebt freilich auch was man gute Zauberey oder lieber Kenntniß der Natur nennt,
aber
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Provenienz
Riga, Latvijas Akadēmiskā Bibliotekā, Ms. 1113, F. 25, V. 31, Nr. 34.