Straßburg, Anfang Mai 1775
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Jakob Michael Reinhold Lenz
Johann Caspar Lavater (Zürich)
LKB
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Ich höre, Du willst nach Strasburg kommen Lavater! Kupfer zu Deiner Physiognomik hier stechen zu lassen. Ich seegne diesen Vorsatz und wünschte ihn in die Zeit hinaus da Goethe gleichfalls sich vorgenommen hie durch zu seiner Schwester zu reisen, wohin ich ihn begleiten könnte. Das Haus in welchem Du ehemals hier geherbergt, wartet daß ich so sagen mag mit offenen Armen auf Dich, in der That darfst Du in Strasburg nirgend anders hin wohnen. Du würdest die Leutgen seufzen machen. Ich wohne zwar selbst nicht mehr da indessen steh ich doch noch immer in Zusammenhang mit ihnen und sie sind es die mir den Auftrag gethan, Dir zum voraus ein Liebesseil an den Hals zu
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werfen, damit Du unsern Hofnungen nicht entgehen könnest. Ich habe unter der Zeit manches erfahren und mich auch ein kleinwenig mit der Welt aussöhnen lernen, vielleicht weil mein Schicksal besser worden. So sind wir Helden, die ein Lüftgen dreht – Du aber bleibest wie Du bist. – Meine größten Leiden verursacht mir itzt mein eigen Herz und der unerträglichste Zustand ist mir mit alledem doch, wenn ich gar nichts leide. Viellleicht ist alle Glückseeligkeit hier nur immer Augenblick und Ruhepunkt den man nimmt um sich in neue Leiden zu vertiefen.
Lieber Lavater! ich muß hier abbrechen, Geschäfte bestürmen mich, denn ich führe mein Schiff itzt selber. Leb wohl.
Lenz.


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Ich imaginire mir Deine Physiognomischen Beschäftigungen in der Stille so reitzend daß ich daran nicht denken kann ohne in Feuer zu gerathen. Du wirst bald den Herzog von Weymar sprechen, in dessen Gefolg ein Mann ist, der ausserordentlich von dieser Gesichtsschwärmerei auch angesteckt ist – und dessen Bekanntschaft überhpt Dich freuen muß.
Hier ein Paar meiner Gesichtsanmerkungen wieder, über die wie über die vorigen Du mir Deine Meynung mündlich sagen magst.
„Alle Linien die heraufgehen zeigen Vergnügen, alle die heruntergehen Verdruß und Traurigkeit an. Es scheint der Himmel hat den Menschen auf die Gesichter zeichnen wollen, wo der Sitz der Freuden zu suchen wäre.
„Je kleiner der Mund, desto unschuldiger das Herz; je grösser, desto erfahrener. P

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An Lavatern.
in Zürich.
Provenienz
Zürich, Zentralbibliothek, RP 20, Nr. 6.