Dorpat (Tartu), 6. Januar 1780
Der Brieftext wurde anhand des Originals kritisch geprüft.
Jakob Michael Reinhold Lenz
Christian David Lenz (Riga)
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Dorpat. D. 6ten Jenner 1780.


Mein theuerster Herr Papa!




Eben komme von Hn. Grafen Manteuffel wo wir mit dem Dorpatschen Bruder und seinem Weibgen und Kindern zu Mittag gegessen. Die Post geht in einigen Sekunden und dieser Brief ist dringender als je einer war, um Ihnen zu berichten, daß, da ich itzt schon den halben Weg gemacht und noch die Versäumniß bey des Herrn Assessor Bergs Sohn nachzuholen seyn wird, ich mit einer guten Gelegenheit gerade nach Petersburg zu gehen denke, um wenigstens die Lage der Sachen einmahl in der Nähe zu übersehen. Darf ich Sie nun wohl theurester Herr
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Papa! um aller Güte und Liebe willen die Sie noch für mich haben, bitten, daß Sie
sogleich sich aufs Schloß verfügen und
ein gutes Wort für mich bey Sr Erl. dem Hn. General-Gouverneur einlegen, ihm meinen Entschluß melden, und wie unentbehrlich und für mein ganzes Glück entscheidend wohl jetzt ein Paar Worte Empfehlung von seiner Hand mir in Petersburg
an den Herrn Geh. Rath Betzkoi
seyn werden, wo meine natürliche Schüchternheit, die Unbekanntschaft mit der Sprache, folglich auch mit den Sitten, mir tausend
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Hindernisse in den Weg legen, gesetzt auch daß ich von keinem Mitkompetenten, welche zu befürchten hätte. Se Erl. wissen besser, als ich es nöthig habe zu sagen, wieviel bey der Schätzung der Kenntnisse und Brauchbarkeit eines jungen Menschen auf den ersten Debüt ankommt und auf die Gelegenheit die man ihm macht, sie zu zeigen. Nicht die vollkommene Erfüllung dessen was man sich von ihm versprochen, sondern nur die Fähigkeit, sich diesem Ideal durch eigenen Fleiß künftig bis zur Vollkommenheit nähern zu
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können, ist das was man zu seiner höchsten Empfehlung sagen kann. Geschichte, und Philosophie die den Staatsmann; Mathematick und Bekanntschaft mit den Erfahrungen der alten und neuen grossen Feldherrn, die sie in ihren Tagbüchern hinterlassen, die den künftigen Kriegshelden, bilden – hoffe ich im Stande zu seyn, mit den dazu gehörigen alten und neuen Sprachen zu dociren: vielleicht können Sr. Erlaucht schon aus der übersetzten Schrift beurtheilen, mit welchem Glück in Ansehen Vortrages und Methode. … Eben kommen Freunde mich zu bewillkommnen. Verzeyhen Sie theurester Vater daß ich bey der Eilfertigkeit der Post mit abbrechen muß, eh ich Ihnen noch gesagt, mit welchen tausend Seegenswünschen und Grüssen Ihre sämtlichen lieben Kinder in Neuhau-
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Ich lege das vom Hn. Gen. Gouverneur verlangte Blatt bey, worüber mir mit umlaufender Post aus Ihrer Gütigkeit nur mit zwo Zeilen Antwort bitte, wenigstens sobald es seyn kann, weil die Reise nun mehr als zu sehr pressirt. Ich werde noch acht Tage hier bleiben um die Briefe aus Riga zu erwarten. Theurster Papa! bedenken Sie gütigst, daß dieser Schritt für mein ganzes künftiges Leben entscheidet und alle übrige Aussichten schwankend und unsicher sind, auch immer bey dieser bestehen können.
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☓ sen und Dorpat Ihnen beyderseits die Hände küssen. Ich hoffe das nächstemahl mehr und umständlicher zu schreiben, der Bruder hat Moritzens geschrieben, daß sie auch herüber kommen. Was für Grüsse hätt ich Ihnen nicht noch von den Herrn Pastor Frank und Pastor Saß zu überschicken die mich wie Bruder Schmidt mit Freundschaft überhäuft haben. Auch Herr Graf Manteufel empfiehlt sich nebst seiner vortrefflichen Gemalinn.

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Wollten Sie die Gütigkeit haben, gegenwärtige Punkte zu Sr Erl. mitzunehmen, um mit ihm darüber zu sprechen. Sollte er aber sie selbst zu sehen verlangen, bitte sie doch von Bruder Carl gütigst abschreiben zu lassen, weil ich dies hier nur in der Eil entworfen und es mir unmöglich ist, ins reine zu bringen, weil die Post abgeht..
Noch eins mein theurester Vater! Die Hauptsache zu meiner Reise ist Geld – ich habe mirs zum Gesetz gemacht, Ihnen damit nicht beschwerlich zu fallen; eins aber können Sie thun und um diese väterliche Barmherzigkeit muß ich Sie ansprechen; daß Sie so gütig sind und bey Hartknoch mit ein gut Wort für mich reden und für mich, wenn ers fordert kaviren. Ich hab ihm geschrieben, was ich
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brauche und wie bald ich ihm die Summe wiedergeben kann, ich mag nun in Petersburg bleiben oder zurückkommen, im ersten Fall wird es nicht schwer halten, ihn
höchstens
in 3, im letzten Fall, höchstens in 4 Monathen völlig zu befriedigen da ich Monatlich auf 30 Thlr
Alb.
stehe. Sobald ich Hartknochs Brief erhalte, schick ich ihm die Obligation; werde also demselben und ein Paar Zeilen von Ihrer Hand mit der ungeduldigsten Erwartung entgegensehen, da ich ohne diese nicht aus dem Fleck kann – und nicht immer die Gelegenheit sich so findet, daß die mich zu sehen neugie-
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rigen Geschwister und Freunde mich von einem Ort zum andern schiessen. Lassen Sie uns also bester Vater! die Sache sattsam und gründlich angreiffen und nicht länger auf Luft und Schatten einer ungewissen Zukunft bauen, da das Gegenwärtige so nicht wiederkommt. Das Künftige was meinem Herzen näher läge, wird schon von selbst kommen, wenn es kommen will und kommen kann, welches mein Herzens Bruder Pegau der so gern sich mit Träumen abspeist, die er freylich nach seinem Gefallen einrichtet, so schwer begreiffen kann.
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Hartknoch giebt gewiß wenn Sie bürgen wo nicht alles wenigstens soviel er kann: 3/4: die Hälfte wenigstens. – – – – – Hier ist alles abgebrannt.

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Hauptsächlich aber daß man eine Zeitlang gearbeitet und sich bey den Planen anderer Leute versucht haben muß, eh man selbst Plane machen kann. Verzeyhen Sie meine Eile und Feder und erfreuen mich, wenn Ihnen mein Glück und Ihre Zufriedenheit lieb ist, baldmöglichst mit einigen gütigen Zeilen Ihrer Hand über diese wichtigen Punkte meiner Reise und meiner Bestimmung. Nach tausend Handküssen von uns sämtlichst an Ihnen und meine theureste Mutter

Ihr

gehorsamster Sohn
J M R Lenz.




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Tausend Grüsse von Oldekops und allen Freunden an Sie, Mama auch Bruder Carl. … Die gutkranke Schmidtin wird Ihnen mit der Post geschrieben haben.
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Provenienz
Riga, Latvijas Akadēmiskā Bibliotekā, Ms. 1113, F. 25, V. 31, Nr. 18.