St. Petersburg, 5. April 1780
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Jakob Michael Reinhold Lenz
Heinrich Christian Boie (Hannover)
LKB
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S. T.
Schätzbarster Freund!




Neue Situationen, öfnen neue Aussichten und knüpfen die alten Verbindungen freundlich wieder an. Ich nahm Abschied von Ihnen, als ich der Trödelbude der Welt müde, mich der Natur in der stillsten Schweitz in den Schooß warf. Sie hat mich in mein Vaterland zu führen gewußt, wo mir jede ehmalige Verbindung neuen Werth erhält. Ich bin bisher von allen litterarischen Neuigkeiten durch meine Schuld abgeschnitten gewesen. Sie werden mich verbinden, wenn ich deren einige und von Ihrer Hand erhalten kann, die für mich den Stempel der Zuverlässigkeit mehr als eine andere führt, da ich zu entfernt bin, als daß sich Leidenschaften zwischen uns einmengen könnten. Also werden Sie auch von mir welche erhalten, an denen Ihnen gelegen seyn könnte. Doch bitt ich zum voraus, keinen andern Gebrauch davon zu machen, als sich mit meinen
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Verhältnissen wird vertragen können, worüber mir die Zuverlässigkeit und Unbestechlichkeit Ihres Karakters bekannt ist.
Was macht also zuförderst Vater Klopstock den ich durch ein Mißgeschick, wie soviele Edle auf meiner Reise habe
ver
fehlen müssen. Und unser fürtrefliche Leibarzt Zimmermann von dessen Sohn ich noch aus Zürich gute Nachrichten mitgenommen. Es wäre unaussprechlich Schade um eine der feinsten und schönsten Seelen unsers Jahrhunderts gewesen, vielleicht durch blossen Kützel des feindseligen Witzes, der lang unter uns Ton gegeben, so ganz erdrückt zu werden. Ach wenn wird Thalia wieder lachen können, die nur das faule Fleisch wegätzt und der edlern Seele neue Lebenskräfte giebt. Sie die im Gefolge
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der Bachanten und Menaden das Angesicht verhüllen muß; wie jener Grieche bey der Aufopferung seiner Tochter.
Von Ihrem Museum weiß ich fast nichts mehr so wenig als vom Merkur, da wir hier periodische Blätter mit näherer Beziehung auf Vaterland haben. Doch könnten sie sich vielleicht mit Ihnen zu ähnlichen Zwecken vereinigen, ohne einander im Debüt zu schaden, da die deutsche Litteratur, wenn sie mehrere Angelegenheiten Rußlands aufnähme, hier vielen Eindruck macht. Vielleicht gibt es in unseren entferntesten Gegenden, echtere Deutsche als bey Ihnen. Verzeyhen Sie mir diese Impertinenz, die wie alle Machtansprüche auch ihren Theil Wahrheit hat, da vielleicht unter keiner Regierung sich Expatriierte von allen Ständen und Fähigkeiten so genau an ein ander geschlossen und so freundliche Behandlung erfahren.
Ich muß schliessen, weil mir kaum soviel Zeit übrig bleibt, Ihnen zu sagen, daß hier ein ehmaliger Eleve von Ihnen, Herr Legationsrath Claudes mir bekannt worden und ich mit ihm näher bekannt zu werden wünschte um Ihnen mit mehr Eindruck versichern zu können, daß ich nicht aufhören kann zu seyn Ihr
verbundenster Fr. u. Diener
J M R Lenz.


Petersbg. D. 5ten April 1780.
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Wie befindet sich Herr Bürger – was machen Pfeffel und Schlosser, die zu weit von mir sind, um sie zu erreichen. Doch bitt ich dem letzten, Herrn Hofrath Schlosser zu schreiben, daß er sich eine unrichtige Vorstellung aus meiner
eben so unrichtigen
Nachricht von meiner gegenwärtigen Situation macht; über die ich ihm, sobald ich es bestimmter
thun kann,
schreiben werde. Doch könnte das Kadettenkorps in Berlin und Herrn Rammlers Situation in demselben ihm ein richtigeres
point de vue
abstecken helfen.
Von Herrn Bause der Ihnen diesen Brief vielleicht selbst abgiebt, vielleicht zuschickt, habe Ihnen noch nichts sagen können. Er geht nach Dessau, aus einem Zuge der Gemüther die mit gleichem Erfolg auf gleiche Zwecke arbeiten. Nur daß sein Standpunkt verschieden und ihrem Journal viele Mannichfaltigkeit und Nutzen mehr geben wird, in das er Beyträge von Petersbg. aus liefern will.
Er wird Ihnen meine Adresse sagen, doch besser wärs, Sie schickten ihm Ihren Brief zu.
Provenienz
Baltimore, Milton S. Eisenhower Library, Ms. 2, Kurrelmeyer Collection.