Moskau, 6. Juni 1787
Der Brieftext wurde anhand des Originals kritisch geprüft.
Jakob Michael Reinhold Lenz
Christian Adolf Ludwig Dingelstedt (Riga)
LKB
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An Sr. HochEhrwürden den Herrn
Consistorialrath Dingelstedt.






In dieser Dunkelheit der Trennungen von Freunden
In dieser Einsamkeit von ädlerem Genuß
Umringt vielleicht, wie Du, von innem, äussern Feinden
Wie Du – um kurz zu seyn – von Lebensüberdruß
Ach treuer Dingelstedt! was kann, um Dich zu trösten
Da wir am Grabe stehn, wo all Dein Glük itzt ruht
Was kann ich sagen? – – – Ist die Hofnung der Erlösten
Nicht unser bestes Rittergut?
Sie liebte – Ach warum mit Bildern Dich bestürmen
Die Dir des Freundes Hand, mit Recht itzt
hart
– entzieht – Sie
ist nicht mehr – – – Sie ist! sie wird Dich noch beschirmen
Wenn rathlos sich Dein Geist um nach dem Hafen sieht.
Und keinen finden kann, ich sage redlich, keinen
Als immer nur den alten einen.
Sie ist! Du zweiffelst Freund! nein Ädler! zweifle nicht!
Es leben
wenig
Freund’ auf Erden
Und immer mehr wirds der Beschwerden
Der Mißverständnisse, des Mißtrauns und des Wahns
Des Wiederspruchs verschiedner Plans.
Allein sie ist! und feiner, ädler, fester
Lebt sie nun ganz für Dich, Du Bester!

Ist ihnen nicht eine Umarbeitung von Bitaubes Geschichte Josephs bekannt, die in Deutschland herausgekommen seyn soll? Verzeyhen Sie daß ich Ihnen von dummen Zeuge spreche, weil ich in der That nichts ernsthaftes zu sagen weiß. Ich habe die Nachricht von dem Hintritt Ihrer Gemalinn in der Zeitung gefunden, die ich sehr
wenig lese
und sehr selten ganz durchlese. Mein Herz schlug mir, daß ich Ihnen solange nicht geschrieben. Aber ach! dürfte ich in solchen Veranlassungen nie wieder die Feder an den in die Hand nehmen, der fähig war mir durch ein Wort der Kraft bey der Nachricht von dem Tode einer Mutter die ich wie mich selbst liebte, soviel Aufrichtung zu geben.
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Ich erinnere mich wenig mehr von den liebenswürdigen Kleinen, denen ich jetzt ein Dingelstedt zu werden wünschte. Könnte ich Ihnen ein mal alles das Gute vergelten, daß Sie mir in Riga erwiesen und setzte mich nicht ein bisgen ungerechter und unmarkvoller Fanatismus oder Gott weiß welcher Geist des Selbstbetruges in Lagen, die es mir fast unmöglich machen Freunden zu dienen, ja offt mich selbst aus der äussersten Verlegenheit zu retten. Die Freundschaft ist meinem Bedünken nach eine etwas standhafte
Werthachtung
des andern, die durch keine Umstände und Glüks- oder Unglükslüftgen (so ein wenig Staub aufwehen) verändert wird. Hier wird weder die Presse befragt, noch der Bücherkatologus nachgesehen, obgleich auch diese Dinge einige Teilnehmung verdienen, aber die, wie mich deucht, beyweitem nicht von der
entsetzlichen
Wichtigkeit ist.
Ich kenne das ganze Hebezeug und Wirkungsmaschine dieser gelehrten Vereinigungen und achte sie nach dem sie es verdienen – aber das
Persöhnliche
meines Freundes ist mir ein wenig schätzbarer, als der armseelige Hausrath von Drehzeug den er in die Gruft mit nimmt. Wir haben die besten Uhren von den geschiktesten Meistern, wir haben Teppiche und Gott weiß was, aber darum ist nicht jeder Teppichmacher ein Apostel u. s. f. nicht jeder Versemacher ein König und Prophet. Wie traurig wird Ihnen Ihr Haus itzt vorkommen, da die Seele in der Hausuhr fehlt – – – dann das bleiben die lieben Gattinnen doch immer, wenn ich gleich dis Glük noch nicht selbst bis auf den Grad erfahren. Die äussern Geschäfte, so unserm Geschlecht überlassen sind, drüken und quälen ohne einen innern Trost, ohne einen geheimen Freund, dem alles recht ist und der uns den Schweiß von der Stirne wischt. Und diesen Freund
gönnt
uns das Verderben der Welt – und Gott! offt unsrer nächsten Freunde
nicht.
Was ist zu thun? Ueber den Sternen wird’s eine andere Philosophie geben.
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Wir suchen, wir wählen, wir betrügen uns und andere, bis wir endlich finden. Es ist einer, der Erbarmen mit unsem Schwächen fühlt. Er prüft doch auch nicht über Vermögen und lenkt Herzen wie Wasserbäche.
Giebt es in Liefland Witwenanstalten für den Adel und die Priesterschafft? Es hat in Rußland ehemals geistliche Stiftungen gegeben, an welche Summen ausgezahlt und für diese Leibrenten entrichtet wurden. Sollten sich nicht in Liefland Fonds zu einer Handlungsgesellschaft errichten lassen, die denen Interessenten, besonders denen verheuratheten, oder die zu heurathen willens wären, jährliche Dividenden austheilten.
Ich schmiere mehr um Sie zu zerstreuen, als Sie zu unterhalten. Das Elend ist allgemein, auch durch ganz Rußland, besonders für die so Vorurtheile in dies Land mitgebracht, die in einem gewissen Alter nicht mehr zu heben sind. Das Reich ist groß und so erschöpft nicht, es werden sich Mittel finden lassen, einem jedem Fremden in demselbigen sein Vaterland wieder darzustellen.
Meine Schwester hatte mir offt von Permien geschrieben, allein ich begreiffe nicht, wie ich dahin kommen, noch was ich da machen soll.
Die Härte der Grundsätze ist überall gleich und man trift freilich mit unter auch überall weichere und edler gestimmte Gemüther. Doch auch diese wünschten gern die ganze Welt nach sich umzustimmen diese Bekehrungskrankheit ist allgemein. Der Schöpfer liebt und will die Verschiedenheit bei aller Eintracht der Gesinnungen und wenn nun der ganze Leib Auge wäre, was würde der Fuß sagen? Warum richten und verdammen sich doch die Menschen untereinander ohne Ursache? – –
Ich bin fast ganz von Kleidem und Wäsche gekommen, durch diese scharfsinnige
Sucht nach Aehnlichkeiten,
die uns alle Individualität nimmt. Sollte denn Gott nicht helfen denen so tag und Nacht zu ihm schreyen über diese felsenfeste und Unbewegliche Bekehrer zu
der kleinen Schimäre
mit der sie Morgens früh aus dem Bette aufstehen.
Ich küsse Sie Ädler! mit dem innigsten Bedauren und bitte mir eine überlegte – aber niemals schwärmerische Theilnehmung in Liebe an meinem Schiksal aus, wenn Geschäfte Ihnen gleich nicht Zeit lassen zu schreiben an Dero
auch abwesend gleich aufrichtigen und
ungekünstelten Verehrer JMR. Lenz.



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N. S. Ich weiß, daß Sie auch
ausser der Kirche
und dem öffentlichen Gottesdienst Geistlicher sind und bitte daher, sich meinen Brief an meinen Vater von demselben vorlesen zu lassen und in Ihre Berathschlagung zu nehmen. Wir haben in dem hiesigen Senat ein Camptair zur Untersuchung des Petersburgischen Justizkollegii und es läßt sich hoffen, daß bey der Commission zur Errichtung neuer Städte geistliche und Weltleute Platz nehmen können. Ich will nicht sagen, Gott berathe, Gott helfe Ihnen, ich will ihn lieber bitten, mich in den Stand zu setzen, auch entfernteren Freunden nützlich zu werden, die mich freilich wohl bisweilen verkennen mögen, weil ich wieder die
Täge
so in der Russischen Kirche ursprünglich ausgesetzt waren, sich bey der Mahlzeit auch des Armen und Dürftigen zu erinnern, nicht mit dem schwärmerischen Eiffer zu Felde zog. Uebrigens ist wohl, bey der Einführung neuer Kalender – anjetzt alles so ziemlich gleich und die
Herzens
härtigkeit das einzige allgemeine Uebel das durch Geduld überwunden werden muß. Die Rangtabellen Peter des Großen fangen an auch so
ziemlich
menschlicher commentirt zu werden als bisher und vielleicht stehen einmal Geistliche auf, die das
Ehre von einander
nehmen ein wenig besser auseinander setzen. – Gott schenke Ihnen und mir weniger schmarrende Lobeserheber und seltnere standhafte und aufrichtige Freunde! – d. 6te Jun. 87.

Mosco.
Provenienz
Riga, Latvijas Akadēmiskā Bibliotekā, Ms. 1113, F. 25, V. 31, Nr. 26.