Moskau, wahrscheinlich Ende 1788 [nach dem 4. November]
Der Brieftext wurde anhand des Originals kritisch geprüft.
Jakob Michael Reinhold Lenz
Lawrent Brouwer (St. Petersburg)
LKB
2
3
4
Sr. HochEdelgebornen Herrn
Brouwer

fürnehmen Handelsherrn in Peterb.



Мнлостнвый rocyаpы мои н покровинено
Инконай Иьваанобнью!


Verzeyhen Sie daß ich Ihnen diesen Namen gebe und Sie ihn noch dazu aus der Brieftasche des Grafen Anhalt bekommen
Sie erinnern sich noch meines kurzen Aufenthalts in Petersburg, meiner Unentschlossenheit, Unwissenheit, Trägheit, Schöngeisterey, Schwermuth kurz aller der Fehler, welche gegenwärtig mit eben dem dringenden Eiffer und Ernst ein für allemal der Vergessenheit zu übergeben bitte, als mir die Geduld, Dienstbegierde, Nachsicht, Ermunterungen so Sie mir in Ihrem Hause gaben, ewig unvergeßlich seyn werden.
Unter einige der vorzüglichsten Proben Ihrer Freundschaft zähle die Bekanntschaft, so Sie mir auf dem Musikalischen Klubb mit einem Herrn
Ziero,
Freund des Herrn
Weitbrecht
machten, durch welchen auch die Ehre hatte der Demoiselle Beausobre in dem Gräflich Tschernitscheffschen Hause aufzuwarten, deren Verwandter durch die fürtreffliche Schrift über das Finanzwesen, sich die Hochachtung der ganzen gelehrten Welt erworben. Ich hatte einen französischen Brief an diesen Herrn aufgesetzt, mit welchem ihm jetzt nicht beschwerlich fallen will, da ich weiß daß Sie auch französisch sprechen und ihm allenfalls die Stelle desselben so ich Ihnen hier in der Abschrift beilege, mündlich vorsagen oder auch vorlesen werden, falls Sie Gelegenheit haben, ihn zu besuchen oder auf dem Klubb zu sehen. Ein gleiches wird mit Herrn
Bakmeister,
der in dem Hause des
Etats
rath
Schwebs
wohnte geschehen können, da ich seine itzige
Charge
nicht gleich auswendig weiß und Fehler in dem Briefe gegen das
Etiquette
zu begehen fürchte
Sie haben doch wohl Bekanntschaft mit dem Herrn Obristen
Boc,
welcher die Tochter eines Direktors des Baues der Isaacskirche geheurathet. Ich bin dieser ganzen Familie (denn wo ich nicht irre giebt es mehrere Brüder, von welchen einen
jüngern in Liefland
auf dem Lande bei einer
Dame
kennen gelernt, deren Schwester itzt Generalin bei der Flotte in Petersburg ist und deren
Gemahl,
obgleich dem Namen nach wie es scheint von
Schwedischer
Abkunft, dennoch in russischen Diensten, und wo ich nicht irre gegen die Schweden
geblieben
) noch von den Jahren her Erkenntlichkeit
2
schuldig, da sie meine Studien auf der Universität mit einer Beyhülfe unterstützten. Sie erinnern sich auch wohl noch, als Sie mich in Petersburg an den Hof nahmen daß ein Kammerherr
Bok
und der Major Berg, Sohn des Generallieutenants in
Riga,
eines vorzüglichen Gönners meines lieben Bruder und apostolischen Vikars in
Derpt,
eine Art von Bollwerk vor uns machten, daß wir weniger beobachtet wurden und durch die kleinen Oefnungen so sie uns doch bisweilen liessen, besser und ungehinderter
sehen
konnten. Der jüngere Herr von Boc war auch ein Freund des jungen Herrn von Behagels, Verwandten des schwedischen Ministers, den Sie in Petersburg gesehen haben. Ein Kammerherr Boc der in dem Demuthschen Gasthof abgetreten war, hat mir viel von seiner gefahrvollen Reise über Schweden erzehlt – alles dieses werden Sie vielleicht schon vergessen haben – ich erinnere mich aber noch, daß ich sogar in Liefland mit Ruhm erzehlen hörte, wie glüklich dieser Herr mit seinen
Bauren
war, für welche er einige geschikte Handwerker aus fremden Ländern mit gebracht und viele derselben, so er an seinen
Adelhof nahm,
eben so wohl zu guten Künsten als zu der deutschen Sprache anhalten lassen. Ein Beyspiel das in Rußland Nachahmung verdiente.
1
am linken Rand der ersten Seite, vertikal
left
Sollte ihnen nicht Herr Merslukin aus Biel bekannt seyn, oder Herr Biel, der, wo nicht irre eine Person ist? – Ich kenne nur seine Person. Er ist glaube ich nach Petersburg zurükgegangen und hat mir sehr wohl gefallen

Das Alpendihlsche Geschlecht ist eines der ältesten und angesehensten in Liefland und das kleine Rüklehn, welches die Monarchinn der Wittwe des verstorbenen Obristen als ein
Wittwengeschenk
für sie und ihre Töchter zur
Anende
gegeben, ward vormals von dem Assessor Hagmeister verwaltet.
2
am linken Rand der zweiten Seite die folgenden beiden Absätze, vertikal
left
Sollte Ihnen, theurester Freund! des Zusammenhanges wegen vieles in meinem Briefe noch sehr undeutlich scheinen so muß Ihnen nur grade heraus meinen Fehler gestehen, daß ich meine
eigene
Person aus
dringenden
Ursachen von allem was meine Freunde Bekannte und Verwandte in Liefland darinne angeht, sehr
bestimmt und deutsch
ausschliessen muß, weil ich weiß, daß man nach gewissen Verabredungen von mir als einem Schwärmer urtheilt und nach denen Briefen so ich Ihnen aus Liefland geschrieben und schon
oft wiederruffen,
halten mußte. Ich war damals wirklich nicht
recht bei mir,
wie ich schon oft erklärt habe,
besonders denjenigen Herrn die besondre Geheimnisse der Freymäurerey in meinem Betragen
suchten.
Eben entzükt mich eine neue Bekanntschafft, so ich von einem Reisenden der aus Peterb. angekommen, gemacht. Wollte Gott, ich hätte vier Pfenninge des Tages einzunehmen und könnte sie mit ihm theilen. Wäre doch die Moskwa der Rhein!
2
am unteren Rand der zweiten Seite
bottom
Herrn Bakmeister, wie auch Herrn Arndt bitte zu fragen ob ihre Russischen Bibliotheken schon Uebersetzer gefunden. Ist Herr Arndt verwandt mit dem V. der liefländischen Chronik?

Man hat in Derpt noch das alte Gemäur einer sogenannten Schwedischen Kirche, welches Herrn Bakmeister
, der mit allen
3
Details von diesem Ort bekannt seyn muß, dessen Universität er beschrieben, nicht unbekannt geblieben seyn kann. Auch wird er wissen, daß Derpt zum
Anseebunde
gehörte (der in Nowgorod zerstöhrt ward) und eine Verbindung durch Pernau mit der Ostsee hatte, so wie durch den Peipus und den Fluß Narwa mit dem Finnischen Meerbusen, folglich die
Möglichkeit
einer
Handelsschule
in Derpt, die freilich den Beystand des umliegenden Adels, der den Jahrmarkt oder die Messe daselbst besucht, nöthig hat, nicht so ganz völlig unter die eitlen Träume und Schimären verwiesen werden muß, zumahl da nach dem Plan der Monarchinn mit der Moskauschen Handelsschule des verewigten geheimen Raths von Demidoff die jungen Studenten dieser Handlungsakademie nach vollendeten Studien
Reisen
erst
innerhalb,
dann ausserhalb des Vaterlandes anstellen sollen, um den Handelszustand und die Produkte jedes Orts, den Karakter der besten Kaufleute u. s. f. kennen zu lernen und ihren künftigen Credit ein wenig zu befestigen.
Sollten die Herrn
Correktoren und Verbesserer
der Sitten und Denkart des Landes, besonders des Volks, in Lief Ingermannland und Finnland, die sonst unter dem altmodischen Tittel von
Hofmeistern
ins Reich verschrieben worden, nicht Gelegenheit haben den Adel auch in Liefland zur Unterschrift
einer Uebersetzung
der berühmten Bonnetschen Sammlungen der Naturgeschichte, des Pflanzen, Stein und Thierreichs in die
Russische Sprache,
wahrscheinlich auch mit Beyträgen von einheimisch Russischen Produckten aus den drey
Reichen,
zu welchen
Künstler, Mahler
☓ ☓
und Kupferstecher
(ich habe im Elsaß sechs Wochen lang Kuhfleisch gegessen, welches mich sehr oft an die Geschichte Abrahams erinnerte, welche am Terek von den dasigen wilden Kosaken noch mit Schlachtung eines wirklich buchstäblichen
Boks mit Hörnern, Fell und Klauen begangen
werden soll; so nöthig sind in unsren neuern
geschliffenen Zeiten
richtige Erklärungen der Kunstwörter, deren
Mißverstand
entsetzliche Folgen haben kann)
☓ ☓
in
Contracktmässigen Anspruch
genommen und wohl bezahlt werden müssen, durch ein gutes Wort zu gelegener Zeit, willig zu machen? – Der Adel und die Damen
4
unterschreiben doch so gern zu allerley
Kleinigkeiten und Possen
in Prosa und Versen, die nur zur Belustigung in trüben Stunden und wieder die Langeweile auf dem Lande auch zu einer
künstlichen
angenehmen Melancholey dienen, aber eigentlich den
wahren Nutzen
ihrer
Haushaltungen, Kinderzucht Bediente
und
Unterthanen,
ja sogar des Umsatzes ihrer Naturprodukte mit
Ausländern,
niemals befördern werden. Solche Bilder mit Farben würden allen möglichen Arten von
langues
und Zungen, sie mögen nun
oui,
oder
oc
aussprechen, willkommen und verständlich seyn. Ich hoffe meinem lieben Bruder Vicarius und durch ihn und Herrn Pastor Oldekopp auch meinem theuren alten Vater gelegentlich davon zu schreiben, wenn der letztere schon sein kleines
Bischofshoff noch nicht einmal besucht hat,
wo ich mich gern mit ihm zusammen fände, um auch ein Paar
neue
Worte mündlich mit ihm wechseln zu können, über hundert Dinge, die hauptsächlich Schulen und Erziehungsanstalten betreffen, da Herr Pastor Gerzimsky und Lau das Vergnügen haben, zu hoffen, eine neue Handlungsschule in Moskau vor ihren Augen aufsteigen zu sehen, die mich sehr oft in
stumme Bewunderung der Gnade der großen und unvergessamen eben
sowohl als
unvergeßlichen Landesmutter
gegen das alte
Lyceum in Riga
hinreisset, wo wie Ihnen bekannt sein wird, Herr Past. Dingelstädt und Moritz die Erziehung dirigiren.
4
am linken Rand der vierten Seite, vertikal
left
Sollten Sie nicht einen Herrn v. Neumann leiblichen Schwager des Holländischen und Französischenglischen lieben Herrn Prediger Brunners, der in Kriegsdiensten war und in Peterburg Seedienste nehmen wollte, kennengelernt haben? Herr Reimann, der Assistent des Herrn Hartknoch des Rigischen Bücher und Verlagsraths (der die Weissischen Schriften so ungemessen verehrt) wird Sie vielleicht auch besucht haben. Wir hätten ihn gern hier zu einer Leih- und Lesebibliothek, die noch nicht creirt ist, mit angestellt

Ihnen persöhnlich verbundenen

JM RLenz.
1
am linken Rand der ersten Seite, vertikal
left
2
am linken Rand der zweiten Seite die folgenden beiden Absätze, vertikal
left
2
am unteren Rand der zweiten Seite
bottom
4
am linken Rand der vierten Seite, vertikal
left
Provenienz
Riga, Latvijas Akadēmiskā Bibliotekā, Ms. 1113, F. 25, V. 31, Nr. 37.