Alles das was Du mir schreibst hat mein Herz grade so geahndet, das war mir ein Siegel, daß auch ich Dein oder Deines Gottes bin. Ich konnte aber – und werde nun keinen üblen Gebrauch davon machen, dessen sey sicher.
Laß Deine Freunde machen was sie wollen und für gut und nöthig finden, ich mische mich nicht darunter, gewiß nicht aus Menschenfurcht, denn was können mir Deine Menschen helfen oder schaden.
Aber was ich in einer Entfernung für Dich hinaus thun kann, das thu ich – und nichts kann mich abhalten. Ich kenne Deine Sphäre nicht, aber ich
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kenne die Fassungsart und Gesinnungen der meinigen, in die ich freilich sehr langsamen und halb imperceptiblen Einfluß habe. Also hast Du nichts von mir zu hoffen noch zu fürchten gegenwärtig.
Deine Physiognomik – lieber der Wunsch mir ein Exemplar geben zu können, was geb’ ich Dir dafür? Mein ganzes Herz – mehr hat mir der Himmel nicht gelassen. Ich glaube aber dennoch, ich glaube, ich werde sobald es heraus ist, hier eines zu Gesicht bekommen und das ist ja
alles
was ich wünsche.
Lebe wohl mein lieber Leidender! Meine Freunde werden mir denn erst recht theuer, wenn sie ein wenig dulden und schweigen müssen und das ist das Gefühl aller honetten Leute. Also nutzen Dir Deine Feinde bei der honetten Welt – und bey der erleuchteten können sie Dir auch nicht schaden. Was bleibt ihnen denn übrig, als ein halbgelehrter schaler feindseliger Anhang, den
ich Dir
nicht wünschen möchte.
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Leb wohl hier ist ein physiognomischer Gedanke der mir durch den Kopf gezogen ist und über den ich Deine Meynung zu hören wünschte. Es ist manchmal gut allerley anzuhören,
wenn man über gewisse Sachen nachdenkt – also wirst Du mir mein Gelall und Gestammel nicht übel nehmen.
Grüsse Passavant (dessen Enthusiasmus für Dich mich entzückt), Pfenninger, das Kind Gottes in Blumen spielend und Kaysern. Ich erwarte von den beyden ersten die nächsten Briefe mit vieler Sehnsucht.
Lenz.
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In unsern Tagen ist eine gewisse Faulheit und Niedergeschlagenheit besonders in monarchischen Ländern so häuffig
anzutreffen, daß die Gesichtszüge daher fast alle auf eins hinauslauffen und von keiner Bedeutung sind. Die zu geläuterten Religionsbegriffe, die übermässige Verfeinerung in den Künsten und Zweiffel und Ungewißheit in den Wissenschaften geben ganz andere Gesichter und ganz andern Ausdruck der Empfindungen als ehemals. Das Feuer sitzt bey uns nur in den Augen, bey den Alten aber in allen Mienen und der Stellung derselben. Ueberhaupt scheinen mir alle heutige bedeutende
Gesichter nur aufgeschürzt
, das heißt die herunter
gesunkenen Lineamenten mit Mühe wieder empor
gearbeitet – da die Alten das zu wilde Emporsteigen der Mienen vielmehr zu hemmen und zu mässigen suchen mußten. Das waren gesammlete Gesichter
, bey uns sind es angestrengte.
Derselbe Unterscheid, der zwischen einem berittenen
wilden Hengst und einem mit Sporn und Kourierpeitsche in Galopp
gebrachten Karrengaul ist.