Straßburg, Dezember 1775
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Jakob Michael Reinhold Lenz
Johann Gottfried von Herder (Bückeburg)
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Ists möglich Herder, daß ich Dir, ich mit gesammter Vaterlandsstimme noch nicht für Deine Ursachen des gesunkenen Geschmacks gedankt habe. Aber so gehts mir mit alle Deinen Sachen, ich geniesse so freudig so feurig daß ich allemal den grossen Dank darüber vergesse. Vergesse? Verhüte der Himmel das abscheuliche Wort, den Dank meines Herzens mußt Du gefühlt haben, nur gehts mir wie einem blöden Liebhaber im Angesicht seiner Vollkommenen dem die Zunge mit Bleygewichten gebunden ist der
zu reden
zittert. Nein ich kann nicht reden. Kann nur immer mit tränendem Aug’ in die Wolken sehn fröhlich glücklich seelig, daß Du da bist, daß Dein Weib, das süssere Weibliche Du Dir zur Seite schwebt – also immer Werth – und Belohnung mit Blumenketten aneinander gebunden geht. Herr Herr Gott barmherzig und gnädig, von grosser Liebe und Treue.
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Ich hatte über die Geschichtsphilosophie ein Gestammel in Versen an Dich aufgesetzt, das ich aber als ein kindisch Lallen unterdrückte. Liebe Posaune des Erzengels, schmettere schmettere Tod und Gericht in tausend unbereitete Busen, mir bist Du Gesang ewigen ewigen Lebens. Daß ich einmal ein Mann würde und Ordnung um mich her sähe und mir die Schriften meiner Lieblinge alle nach ihrem individuellen Werth um mich her stellen könnte, wie groß und stark würde ich denn seyn. So aber genieß ich immer im Fluge, doch seelig –
Darf ich Dir zu dem Hügel Glück wünschen auf dem Du itzt Batterien anlegen wirst, grosser Freund des Herrn? – Mein Herz wallt und schwingt sich für Freude über alle die Aussichten, ich aber ich mein Bruder – ach eine Träne aus Deinem Männerauge – ich werde untergehen und verlöschen in Rauch und Dampf. Doch will ich die Liebe mitnehmen. Sie allein wird mich
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zur Hölle hinabbegleiten u. noch da tröstend zur Seite stehn. – Meine Reise nach Italien könnte sich wohl noch machen, aber sobald nicht. Der Stein des Anstosses ist fort, nur hängt mein Mann noch zu stark an Strasburg. – Diese Reise ist mir eine wahre Höllenfahrt. Von allem mich loszureissen – und doch muß es gerissen seyn. Herder laß Deine Seele, Deine Vaterwünsche mir folgen, mich nie verlassen. Und Deiner Frauen – ach wenn sie mir wohl will, so kann ich Gott nicht unangenehm seyn. Lenz.
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Provenienz
Weimar, Goethe- und Schiller-Archiv, GSA 44/69, Bl. 9.